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Menschenrechtsverletzungen im Sozialismus

■ Interview mit Ilona Rothe, Mitglied der Arbeitsgruppe Vergangenheitsbewältigung des Neuen Forum Erfurt

Mit bisher totgeschwiegener DDR-Geschichte beschäftigt sich die Erfurter Lehrerin Ilona Rothe. Hunderte von Erlebnisberichten, Dokumenten und Quellen über die Zwangsaussiedlungsaktionen an der deutsch-deutschen Grenze hat sie bisher ausgewertet.

Am 28. April 1990 ist dieses Material auf einer Tagung in der Erfurter Thüringenhalle der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Zu dieser Veranstaltung wurden über 1.000 Betroffene und Zeugen sowie Historiker aus Ost und West erwartet. Letztere und offizielle Vertreter der Regierung blieben jedoch aus unerfindlichen Gründen der Veranstaltung fern, obwohl Frau Rothe Einladungen verschickte.

taz:Welche Gründe gab es für die Zwangsaussiedlung Tausender aus ihrer angestammter Heimat?

Ilona Rothe: An der damaligen Demarkationslinie und späteren Grenze sollten klare Verhältnisse geschaffen werden. Alles, was störend wirkte, mußte beseitigt werden. So wurden Leute ausgesiedelt, die durch eine andere Meinung aufgefallen waren, die Westfernsehen sahen oder Rias hörten. Zu den Ausgesiedelten gehörten aber auch Menschen, die Verwandte in der Bundesrepublik hatten. Auch Besitzverhältnisse spielten bei den Deportationen eine Rolle. Der freigewordene Wohnraum sollte gemäß einer Durchführungsbestimmung der Regierung politisch sicheren Kräften zur Verfügung gestellt werden.

Sie haben Hunderte von Erlebnisberichten von Opfern erhalten. Läßt sich daraus eine Tendenz über die Vorgehensweise ablesen?

Es gab zwei große Massenaktionen am 5. Juni 1952 und am 3. Oktober 1961 sowie weitere Einzelfälle bis in die 80er Jahre hinein. Die Verfahrensweise war immer die gleiche. Die Aussiedlungen wurden bereits Wochen vorher stabsmäßig geplant. Für die Betroffenen kamen sie jedoch völlig unerwartet. In der Regel begannen die Aussiedlungen zwische ein Uhr in der Nacht und fünf Uhr morgens. Die Dörfer wurden umstellt, die Häuser eingekreist. Die „Vollstrecker“ waren mit Waffen und Gummiknüppeln ausgerüstet. Oft wurden Türen eingeschlagen, den Erwachsenen nahm man die Personalausweise ab und forderte sie auf zu packen. Die Betroffenen waren oft so geschockt, daß sie gar nicht Hand anlegen konnten. Mitgebrachte Packer beluden die LKW und die Personen wurden in vergitterten Autos abtransportiert. Der Troß bewegte sich zu ausgewählten Bahnhöfen. Dort wurden jeweils 50 bis 60 Männer, Frauen und Kinder in bereitgestellte Viehwaggons verladen, in denen sich ein Eimer für die Verrichtung der Notdurft befand. Die Züge standen oft stundenlang und setzten sich gewöhnlich nachts in Bewegung. Keiner wußte wohin und keiner wußte warum.

Gab es denn für ein solches Vorgehen eine gesetzliche Grundlage?

Für ein solches Vorgehen schuldlosen Menschen gegenüber wird es niemals eine gesetzliche Grundlage geben können. Natürlich existierte die Regierungsverordnung vom 25. Mai 1952. Sie beauftragte die Staatssicherheit die Demarkationslinie gegebenenfalls mit strengsten Maßnahmen zu schützen. Von Zwangsaussiedlungen ist dort jedoch nichts zu lesen, diese Anordnung enthalten geheime Papiere, auf die wir jetzt gestoßen sind. Dort benennt man diese Deportationen mit dem Begriff „Aufenthaltsbeschränkungen“. Sie konnten auf Verlangen der örtlichen Staatsorgane, auch ohne daß die Verletzung eines bestimmten Strafgesetzes vorlag auferlegt werden. Dadurch entstand eine Handlungsfreiheit, die zu allen Schandtaten berechtigte.

Was wissen Sie über die Täter und deren Helfer?

Ich bin sehr froh, daß sich einige gemeldet haben. Die meisten sind ehemalige „Packer“, die oft vorher gar nicht wußten, wozu sie mißbraucht werden sollten. Sie bekannten, daß sie selbst im Krieg nicht solche Schweinereien gegen Zivilpersonen gemacht hatten. Aber die wirklichen Verantwortlichen sind momentan von uns nicht faßbar. Entweder sind sie verstorben oder krank. Wir haben jetzt die Einsatzliste der Funktionäre aus dem Kreis Sondershausen gefunden. Von diesen 104 aufgelisteten Personen gehörten 94 der SED an.

Welche Aufgaben stellt sich die Arbeitsgruppe Vergangenheitsbewältigung?

Wir wollen, daß die Betroffenen berichten, was ihnen geschehen ist. Kein Geschichtsbuch spricht über diese Vorgänge. Man muß seine Vergangenheit kennen, damit man sich zu ihr bekennen kann. Desweiteren haben wir gefordert, daß ein kompetenter Vertreter der Regierung oder des Obersten Gerichts Aussagen zu den Hintergründen dieser Aktionen macht, Hauptschuldige benennt. Wir erwarten eine Rehabilitierung der Betroffenen sowie Vorschläge für eine Wiedergutmachung.

Das Interview führte Dieter Heuke

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