Menschenrechtlerin Bensedrine über Tunesiens Diktatur: "Schlimmer als im Iran"
Die Oppositionelle Sihem Bensedrine wirft Europa vor, das Regime in Tunis zu stützen. Sie sagt: Tunesien ist nicht wirklich stabil, es braucht einen friedlichen Wandel. Ansonsten siegt religiöser Extremismus.
taz: Jedes Jahr fahren Millionen Touristen nach Tunesien. Für sie stellt sich das nordafrikanische Land als gemäßigt dar. Sie hingegen reden von einer Diktatur. Wie kann das sein, Frau Bensedrine?
Sihem Bensedrine: Die Touristen sehen nur eine Fassade. In Tunesien gibt es keinerlei politische Freiheiten. Das Regime von Ben Ali lässt selbst eine gemäßigte Opposition nicht frei arbeiten. Das erleben wir zurzeit im Wahlkampf. Am kommenden Sonntag sind Präsidentschaftswahlen. Es ist eine große Farce.
Die 58-jährige Journalistin und Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien kämpft seit 1980 für Menschenrechte in ihrer Heimat. 2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter inhaftiert. Das Büro von Sihem Bensedrine wurde immer wieder durchsucht. Maskierte Männer überfielen und schlugen sie zudem auf offener Straße.Telefon und Fax werden gekappt, auch während dieses Interviews. Seit einigen Jahren lebt sie in Deutschland und Österreich. Zum Wahlkampf kehrte sie in ihre Heimat zurück. 2002 erhielt sie den Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit.
Wie werden denn Oppositionelle behindert?
Ein Kandidat wurde mit einem neuen Gesetz sogar daran gehindert, an den Wahlen teilzunehmen. Wer kandidieren will, muss zuvor zwei Jahre Parteivorsitzender gewesen sein. Der Sozialdemokrat Mustapha Ben Jaafar erfüllt diese Bedingung nicht. Präsident Ben Ali tut alles, um seine Wiederwahl zu garantieren. Er ist so eine Art Präsident auf Lebenszeit.
Gibt es Zensur?
In der Presse kommt die Opposition so gut wie nicht vor. So wird zum Beispiel der Oppositionskandidat Ahmed Brahim von der Bewegung Ettajid behindert, wo es nur geht. Seine Zeitung wurde geschlossen. Er konnte bis zuletzt sein Wahlprogramm nicht drucken lassen. Und vielerorts wird die Opposition daran gehindert, die Plakate anzubringen.
Können Sie sich frei bewegen?
Nein. Ich hatte eigentlich eine Reise in den Nordwesten des Landes geplant. Wir wurden gestoppt und vier Stunden lang festgehalten. Dann wurde uns mitgeteilt, dass wir ohne Genehmigung der Polizei und des Innenministeriums nicht weiterreisen können.
Aber die Einschränkungen betreffen nicht nur Sie, oder?
Heute wurden meine Kollegen des Nationalen Rats für die Freiheit in Tunesien von 20 Polizisten daran gehindert, unser Büro in der Hauptstadt zu betreten.
Sie betreiben weiterhin Ihren Radiosender Kalima?
Ja, wir machen Radio. Unsere Reporter arbeiten unter extrem schwierigen Bedingungen und wir senden von Europa aus. Unser tunesisches Büro wurde im Januar geschlossen. Die Polizei hat sämtliches Material beschlagnahmt. Und gegen mich läuft ein Verfahren wegen illegaler Benutzung einer Frequenz.
Gibt es unter solchen Bedingungen überhaupt noch so etwas wie eine Zivilgesellschaft?
Es gibt kleine Gruppen, die sich für Bürgerrechte einsetzen. Sie können nichts veröffentlichen und keine Kundgebungen abhalten. Das geht so weit, dass das Regime formal unabhängige Organisationen wie die Gewerkschaften kontrolliert. Als die Journalistengewerkschaft einen unabhängigen Vorstand wählte, organisierten regimetreue Mitglieder einen Putsch und setzten so den Vorstand ab.
Trotz aller Widerstände: Es gibt das Internet. Das dürfte doch eine unabhängige Informationsquelle sein.
Ja, Internet ist wie ein Fenster zur Freiheit. Soziale Netzwerke wie Facebook sind sehr populär. Sie bieten die Möglichkeit zum freien Austausch mit anderen, auch außerhalb des Landes. Aber das Regime kontrolliert das Internet, auch E-Mails. Die Polizei hat Spezialeinheiten, die das Netz durchforsten und kritische Seiten sperren lassen.
Wie gehen die Behörden vor?
Es wird genau überprüft, wer Zugang zum Internet bekommt. Die Internetcafés werde ebenfalls überwacht. Wer dort ins Netz geht, bekommt eine Zugangsnummer. Diese lässt sich zurückverfolgen.
Seit den vergangenen Wahlen im Iran setzt die internationale Staatengemeinschaft die autoritäre Regierung in Teheran unter Druck. Bei Tunesien schaut Europa weg. Stimmen Sie zu?
Europa unterstützt die Diktatur in Tunesien - vor allem Frankreich und auch Deutschland. Dabei ist die Situation in Tunesien wesentlich schlimmer als im Iran. Dort sind immerhin Demonstrationen möglich. In Tunesien ist jedwede öffentliche Aktion verboten. Die Überwachung durch die Polizei ist allgegenwärtig.
Warum akzeptieren einige Regierungen in Europa die Politik des tunesischen Präsidenten Ben Ali?
Für Europa ist Ben Ali ein Garant im Kampf gegen den religiösen Extremismus. Deshalb ist er einer der wichtigsten Alliierten Europas. Dabei wissen die Europäer sehr genau, dass Tunesien ein totalitäres und auch extrem mafiöses Regime ist. Der Clan von Ben Ali bereichert sich grenzenlos. Das schadet auch den wirtschaftlichen Perspektiven des Landes.
Europa setzt also auf Stabilität statt auf Freiheit.
Stabilität ohne Freiheit ist auf Dauer nicht möglich. Das gilt auch für Tunesien. Die vermeintliche Stabilität wird nicht lange anhalten. Wenn Menschen verfolgt werden, die einen friedlichen, demokratischen Wandel herbeiführen wollen, stärkt das diejenigen, die auf gewaltsame Veränderungen setzen. Wenn es zu einem Bruch an der Staatsspitze kommen sollte, dann sind wir wesentlich größeren Gefahren ausgesetzt. Die Stabilität ist also nur eine Fassade. Sie verdeckt die eigentliche Situation. Wer glaubt, zwischen Stabilität und Freiheit wählen zu können, setzt das Land erst recht der Gewalt und dem religiösen Extremismus aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
G20-Gipfel in Brasilien
Milei will mit Kapitalismus aus der Armut
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört