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■ Menschen, die sich selbst ein Rätsel sindMichael ist schizophren und hört seit zehn Jahren Stimmen, die es nicht gibt. Er malt Landschaftsbilder und vergißt viel, seitdem er Elektrostöße bekommt. Pfleger Frank ist sensibel, aber auch ...

Menschen, die sich

Michael: Du bist seit über zehn Jahren in der Psychiatrie. Das ist verdammt lange, und dafür hast Du Dich gut gehalten. Die ganze „zweite Hälfte Deiner Jugend“, wie Du es einmal formuliertest, bist Du durch die verschiedensten Psychiatrien. Mal wurdest Du medikamentös so eingestellt, daß Du die Arme nicht mehr heben konntest, mal ließen sie Dich bohemehaft leben wie einen reichen Kranken. Die Diagnose haben die Experten aber in den ganzen zehn Jahren nicht mehr geändert: Du hast eine – inzwischen chronische – halluzinatorisch-paranoide Schizophrenie. Die Ursache ist wie bei allen Schizophrenen unbekannt.

Du bist 30 Jahre alt. Deine schwarzen Haare werden an vielen Stellen grau. Unter der breiten Stirn leuchten Deine kleinen grünen Augen jung und passen nicht zu den davongealterten krausen Strähnen. Deine Zähne sind verfault, und Deine Körperhaltung ist typisch psychiatrisch: vornübergebeugt mit angezogenen Schultern und eingefallenem Oberkörper. Du gehst schlurfend und ziellos hin und her, oft mit einer Zigarre zwischen Zeigefinger und Daumen, bis sie fast verbrennen.

Man sieht es sofort, wenn Du die Stimmen wieder hörst. Dann wird aus Deinem gelangweilten Umhergeschlendere ein abwehrender Schritt. Die Stimme Deines ehemaligen Professors von der Kunsthochschule quält Dich, indem sie penetrant wiederholt, daß Deine gemalten Bilder nicht von Dir seien, daß Du sie gestohlen hättest. Gequält schlägst Du nach dem Professor, irgendwohin. Mitunter geht dabei etwas kaputt. Einen Lichtschalter hast Du dreimal zertrümmert.

Du kriegst die Stimmen nicht fort. Seit zehn Jahren nicht.

Die Watte, die Du Dir in die Ohren stopfst, hilft Dir genausowenig wie alles andere. Du weißt, was Du tun kannst, um die Stimmen möglichst selten zu hören. Dazu gehört, daß Du viel schläfst, vor allem lange bis in den Vormittag hinein. Dazu gehört, daß Du viel malst, besonders gerne malst Du Landschaften in milden grünblauen Tönen. Seit den fünf Monaten, die Du nun hier bist, hast Du über 250 kleine Bilder gemalt und gezeichnet. In regelmäßigen Abständen erzählst Du das stolz, aber hier interessiert sich nur der sanfte Beschäftigungstherapeut dafür. Weil der zufällig auch gerne malt.

Du liebst die Natur. Du behauptest sogar, sie könne Dich heilen. Und die Frauen. Beides bekommst Du hier nicht. Statt dessen kriegst Du hier reichlich das, was Du verabscheust: Neuroleptika, Fernsehgeräusche und Gewalt gegen Menschen. Wenn Du beobachtest, wie sie jemanden festhalten und spritzen oder im Bett anbinden, wirst Du unruhig und betroffen.

Nur in solchen Momenten fühlst Du, wo Du hier bist: auf einer geschlossenen psychiatrischen Station einer Universitätsklinik. Undenkbar, daß hier jemand längere Zeit ist, ohne Medikamente einzunehmen. Es kann auch nicht hingenommen werden hier, daß es Dir gutgehen kann trotz Deiner Krankheit, gleichsam in ihr einrichtend. Es wurde bereits der Verdacht geäußert, Du schlägst Gewinn aus Deiner Krankheit. Dem wird hier entgegengetreten. Hier muß der Kranke an seiner Krankheit leiden oder gesund werden, dazwischen gibt es nichts. Hier muß der Kranke therapiert werden: er muß seine Medikamente nehmen. Bei Dir hat man manchmal den Eindruck, Dir sind das Malen und Dein Durchgewurstle wichtiger als Deine Gesundung.

Welchen Preis zahlst Du für Deine Haltung. Man zwingt Dich, die Medikamente zu nehmen. Entweder Du nimmst sie oder der Ausgang wird gestrichen. Du hast es erlebt, als sie Dich nicht haben mitgehen lassen in das Museum, weil Du Dich geweigert hattest, Deine Tropfen zu nehmen. Steif und fest behauptest Du, sie bereits genommen zu haben. Das muß aber ohne Aufsicht passiert sein. Man glaubt Dir nicht. Danach warst Du traurig und hast Dich ins Zimmer verzogen.

Warum hast Du diesem Stationsarzt eingewilligt, an Dir eine Elektrokrampftherapie anzuwenden? Der Mann will Dir insgesamt zehnmal innerhalb von drei Wochen unter Narkose Strom durch den Körper jagen. Er will, daß sich „mal was tut“. Das „Krampfen“ ist wieder im Kommen, vorerst in den Universitätskliniken, denn „hier sind die bekannten Leute, die sich trauen, der Öffentlichkeit entgegenzutreten“, so der Arzt. Nachdem in den siebziger Jahren die Elektroschocks weitgehend aus deutschen Kliniken verdrängt wurden, gibt es heute einen Rollback. In Deinem Fall ist die Argumentation des Psychiaters einfach: Du bist therapieresistent, das heißt, die Medikamente wirken nicht.

Als letztes Mittel bleibt da nur die Elektrokrampftherapie, die im übrigen sehr billig ist. Obwohl deren Wirkungsweise unbekannt ist und Therapieerfolge alles andere als sicher, vertritt der Arzt die Methode entschlossen. Auf jeden Fall sei es die letzte Möglichkeit, Dich vor der Abschiebung in ein dunkles Chronikerheim zu verschonen. Irgendwohin, wo die Krankenkasse keine 680 Mark Tagessatz für Dich bezahlt wie hier.

Der Psychiater hat Dich an Deiner schwächsten Stelle gekriegt: den Medikamenten. Er schlug Dir einen Deal vor, und Du warst so naiv, darauf einzugehen. Tatsächlich bot er Dir an, die Medikamente abzusetzen und dafür die Elektrokrampftherapie zu beginnen. Und Du warst über den Gedanken, keine Tropfen und Pillen mehr nehmen zu müssen, so euphorisch, daß Du zugestimmt hast. Dabei hat er Dir verschwiegen, daß es üblich ist, vor Beginn der Stromstöße die Pharmaka zu reduzieren oder abzusetzen.

Irgendwie bist Du verwöhnt. Behütet aufgewachsenes Kind einer wohlhabenden Familie. Dein Vater – ihn liebst Du am meisten – ist ein bekannter Bauingenieur und Dein Bruder ein erfolgreicher Geschäftsmann. Von Deiner Mutter hast Du vielleicht das Künstlerische. Sie ist Kunstpädagogin. Beide Eltern kommen Dich von Zeit zu Zeit besuchen. Sie hören Dir zu und versorgen Dich mit Zigarren und etwas Geld. Sie lassen Dich nicht hängen, wenn sie auch Deine Kritik leider nicht teilen: „Sie glauben alles, was die Ärzte sagen“, hast Du einmal gesagt. Obwohl Du schon so lange krank bist, hast Du viele schöne Dinge zu erzählen. Strahlend schilderst Du Deine Fluchten aus verschiedenen Kliniken. – Du sagst, Du hast Dir „Dein Recht genommen“ – und Deine einsamen Wanderungen durch die Landschaft. Bis zu einer ganzen Woche warst Du unterwegs. Geschlafen hast Du in Scheunen, ernährt hast Du Dich „von Beeren und Honig“. Ein Fieber hat Dich leider gezwungen, Dich wieder in der Klinik zu melden. Aber Du hattest etwas erlebt. Oder Du erinnerst Dich an die gute Zeit in der betreuten Wohngemeinschaft bei München, wo Ihr mitten im Grünen in einer phantastischen Villa gelebt habt. Damals hast Du mit mehreren Frauen geschlafen. Die ganze Zeit mußtest Du keine Medikamente nehmen. Davor warst Du in Haar. Dort gab es für jeden morgens drei Stunden Arbeitstherapie im Garten. Das war zwar hart, aber Du ziehst es dem Pillenschlucken vor.

Letzte Woche am Mittwoch begann die Elektrokrampftherapie.

Zwei bis sechs Sekunden fließt der Strom, der Körper krampft etwa eine Minute. Ein großer epileptischer Anfall wird ausgelöst. Der Patient erhält ein Stück Plastik in den Mund, damit er sich nicht in die Zunge beißt, und vor dem Schock ein Muskelrelaxans gespritzt, damit er sich nicht ernsthaft verletzt. Der Patient muß danach beatmet werden, weil die Narkose das Atemzentrum lähmt. Nach dem ersten Mal war Dir schlecht, und Du hattest Kopfschmerzen.

Du fandest es erstaunlich, aber auch erleichternd, daß Du Dich an nichts erinnern konntest. Zwei Tage später, am Freitag, bekamst Du die zweite Stromration. Die hast Du besser verdaut. Bei der dritten Sitzung bekamst Du kurzzeitig keine Luft, was Dir angst machte. Nun hast Du vier Termine hinter Dir, noch vier sind geplant. Alle sagen, Dir gehe es besser als vor der Therapie. Du sagst, daß es Dir „zumindest nicht schlechter“ gehe. Sorgen machst Du Dir nur darüber, daß Du, seitdem Du den Strom kriegst, soviel vergißt. Deine Bilder seien nun Dein Gedächtnis. Der Arzt meint, Du willst nur nicht zugeben, daß es Dir besser gehe.

Die Auswirkung der Hirntraumen, die durch die Elektrokrampftherapie entstehen, kann erst nach Wochen eingeschätzt werden. Es gibt oft Rückschläge. Nach Abschluß der Therapie wird man Dich hier entlassen. Wo Du hinkommst, weißt Du nicht.

Es hat Spaß gemacht, das Kochen in der Gruppe gestern mit Dir. Es war lustig, wie Du nicht akzeptieren wolltest, daß wir den Auflauf in Schichten machten. Du wolltest ihn verrühren. Aber Du hast die Schichten schließlich auch gegessen. Danach hast Du mit einer irren Ruhe gespült. Jeden einzelnen Topf mit einem extra Schuß Spülmittel. Du wolltest, daß die Töpfe „richtig sauber“ wurden.

Es tut weh zu sehen, wie Du behandelt wirst. Vor der Therapie hattest Du Angst geäußert. Du fragtest, ob der Strom weh tun würde. Als Du erfuhrst, daß früher ohne Narkose gekrampft wurde und das den Leuten natürlich weh tat, bekamst Du erst recht Angst. Du sagtest, der Schmerz sei doch ein natürlicher Reaktionsmechanismus des Körpers gegen etwas, was ihm schaden würde. Schalte man den Schmerz nun künstlich mit einer Narkose aus, dann sei die Schädlichkeit des Stroms doch nicht behoben. Trotzdem hast Du eingewilligt. Und heute sagst Du: „Ein bißchen wird es schaden, und ein bißchen wird es nützen.“ Mensch Michael!

Der stellvertretende Oberpfleger auf der Station, ein sensibler Schläger: Es sitzen am Tisch drei kräftige Pfleger und trinken Kaffee. Es ist später Nachmittag. Man sitzt und trinkt und raucht, man steht und sitzt dann wieder ohne Grund, man wartet, man plaudert und lacht und sieht immer wieder in den großen Aufenthaltsraum der Patienten, man langweilt sich gespannt. Man muß jeden Moment gefaßt sein auf einen Wahnsinnsausbruch eines akuten Psychotikers oder auch nur auf irgendeine harmlose, aber unheimliche Geste oder Unverschämtheit eines Unberechenbaren. Man muß jeden Moment bereit sein, sich psychisch einzusetzen. Schreie und Tierlaute von Patienten, Schläge gegen Türen und Tische und das Gerassel der riesigen Pflegerschlüssel reizen die Stimmung zusätzlich. Es ist schwebend gewalttätig auf der geschlossenen Station.

Aber manche Pfleger sind keine gewalttätigen Charaktere. Sie sind nicht so zynisch oder verbittert, daß es ihnen irgendwo im Dunkeln ihres hinteren Hirnes Befriedigung verschaffen würde, anderen weh zu tun oder Kranke zu demütigen. Aber auch diese Sensiblen werden erfaßt von dem Haß und der Wut. Ein paar Kranke sind wütend und schlagen bisweilen um sich, weil sie hier eingesperrt sind und das ihre psychotische Angst noch steigert. Viele sind zwangsuntergebracht. Sie haben kein eigenes Zimmer oder einen Schreibtisch. Sie stehen unter permanenter Beobachtung. Die Struktur ihres Tages wird fremdbestimmt.

Sie werden zwangstherapiert, das heißt, sie müssen die Medikamente nehmen, sonst werden ihnen die letzten Reste persönlicher Freiheit entzogen, als da wären: Rauchen oder „Alleengrün“. Das ist zweistündiger Ausgang in die Umgebung der Klinik. Es gibt auch Kranke, die „auf Rot sind“. Das bedeutet, sie dürfen die Station nicht verlassen. Jeder Kranke hat das Ziel, schnell „von Rot auf Gelb“ (Ausgang mit Begleitung) und „von Gelb auf Grün“ zu kommen. Das und die Medikamente sind die Hauptthemen, über die die Patienten untereinander sprechen. Manche von ihnen ertragen die Freiheitsberaubung nicht und lehnen sich auf. Sie randalieren. Ihnen „fehlt die Krankheitseinsicht“, sie sind „schlecht führbar“, „renitent“, „querulatorisch“, sie „agitieren“.

Die drei sitzen immer noch am Tisch. Dem einen, er ist auffallend lässig und entspannt, merkt man an, daß er nicht zu den Sensiblen gehört. Er trägt Koteletten und Ohrringe und Cowboystiefel. Der Entspannte ist seit fünf Jahren hier und will demnächst kündigen. Gerade erzählt er davon, nach seiner Kündigung für einige Wochen nach Thailand zu fahren, um dort „jeden Tag mindestens drei Thaifrauen zu ficken, damit mir die Frauen endlich mal zum Halse heraushängen“.

Es gibt noch einen vierten Krankenpfleger heute nachmittag auf der Station. Der stellvertretende Oberpfleger. Sein Name ist Frank. Seit 22 Jahren ist er in dem Beruf, und er „macht es immer noch gerne“. Das wiederholt er nur zu oft. Früher war Frank Seemann. Er sitzt nicht am Tisch mit den anderen drei. Sie wissen nicht, wo er ist. Seit einer Stunde ist er verschwunden. Vielleicht ist er auf der Nachbarstation. Einen kleinen Plausch halten.

Plötzlich ein langgezogener Schrei von einem Mann. Und noch so ein zerfetztes Geräusch, diesmal panisch. Die drei kräftigen Pfleger am Tisch fahren zusammen und springen auf. Sie befürchten, daß es Frank ist, der da so schreit. Sie rennen dorthin, wo die Schreie herkommen.

Aber sofort können sie abbremsen. Frank kommt ihnen entgegen. Er will cool wirken. Möglichst salopp fragt er die drei: „Was ist denn? Warum rennt Ihr denn so? Los Jungs, Ihr könnt Euch wieder hinsetzen. Was macht Ihr für eine Panik?“ Die Schreie kamen nicht von Frank, sondern von einem Patienten namens S., der inzwischen im Türrahmen des Patientenzimmers steht, aus dem kurz zuvor Frank herauskam. S. krümmt sich und hält beide Arme um den Bauch, dort, wo die Schläge keinerlei Spuren hinterlassen.

Wortlos, weil noch immer etwas erschrocken, machen die drei kehrt und setzen sich gemeinsam mit Frank an den Tisch. Der erzählt bereits wieder eine Geschichte. Über den Zwischenfall wird kein Wort mehr gewechselt.

Am nächsten Morgen reibt Frank sich öfters demonstrativ den linken Arm und klagt über Schmerzen. S. habe ihn gestern so gehauen, daß der Arm ihm heute noch weh tue. Der Patient S. ist allen als ein aggressiver Patient bekannt, und die Anwesenden wissen, daß S. vorgestern einer Schwester ins Gesicht geschlagen hatte, als sie ihm gerade Feuer anbot. Nachdem sie reflexartig zurückgeschlagen hatte („Das machen wir hier so“), mußte sie mit geschwollener Backe nach Hause gehen. Wollte Frank gestern vielleicht dem Patienten S. eine Lektion erteilen?

Fällt denn niemandem auf, daß solche Schlägereien mit Patienten immer bei den gleichen drei, vier Pflegekräften auftreten? Auch der Patient S., so krank, daß man sich überhaupt fragt, ob er realisiert, was er tut, geht nur auf diese drei, vier Pflegekräfte los.

Die Schwester, die zurückschlägt, und Frank, der auf den Streß und die Aggressionen mit Mißhandlung reagiert (manchmal verbal, zum Beispiel, als ein randalierender Patient mit Ledergurten im Bett fixiert wurde, rief er aus dem Hintergrund: „Bindet ihn an, bis er verfault!“), sprechen beide gern über die Vergangenheit. Sie betonen beide ihren früheren Idealismus. Ein Rest davon ist erkennbar in ihrem Interesse für die sozialen und biographischen Hintergründe der Krankheiten. Beide sind sie aber vor Jahren hierher gekommen, nachdem sie Martyrien auf anderen Stationen durchlebt hatten. Die Schwester auf einer Kinderkrebsstation, Frank in der Jugendpsychiatrie in irgendeinem Landeskrankenhaus.

Aus sensiblen Idealisten sind sensible Schläger geworden. Der Macho, der nach Thailand fährt – etwas, was Frank nie machen würde, weil er es schmutzig und gewalttätig findet –, hat derartige Schlägereien mit Kranken nicht.

An einem Vormittag wird ein junger, gepflegter Ingenieur von seinem Schwager auf die Station begleitet. Der Mann fühlt sich verfolgt, hört Stimmen und tyrannisierte in seinem Wahn seine Frau und sein kleines Kind so intensiv, bis sie veranlassen, daß ihr Mann in eine psychiatrische Klinik kommt. Der kräftig gebaute, muskulöse Mann hat um sich geschlagen, als man daran ging, ihm das unbestritten helfende Medikament zu verabreichen.

Und nun geschieht das Gewalttätige, bei dem unter anderen der sensible Frank dabei war: Zu viert überfallen sie den Ingenieur, kämpfen ihn nieder und drücken ihn mit aller Kraft nach unten, damit ihm das Mittel injiziert werden kann. Danach geht es ihm schlagartig besser, seine starke Angst ist weg.

Aber Frank ging es danach schlecht. Noch tagelang nachher deutete er an, daß ihm die Sache nahegegangen war. Unruhig und zerfahren war er in diesen Tagen. Er konnte kaum stillsitzen. Manchmal schlug er seinen schweren Schlüssel auf den Kühlschrank, nur um die Kollegen zu erschrecken. Mit lauter Stimme mischte er sich überall ein, gab zu allem seine Kommentare. Nervös heizte er den groben Stammtischton im Aufenthaltsraum weiter an: Wer sich hieran beteiligt, muß keine Angst vor persönlichen Fragen haben.

Manchmal, abends, in kleinerem Kreis, läßt er persönliche Dinge raus. Daß er eine fünfjährige Tochter hat, für die er alles tun würde, zum Beispiel jederzeit die Stadt verlassen, falls sie hier in „schlechte Kreise“ geriete. Und daß er ein Magengeschwür habe und Probleme mit dem Herzen.

Frank hält nicht viel von psychiatrischer Krankenpflege. Er praktiziert statt dessen die disziplinierende Verwahrung und das Für-die-Medizin- zur-Verfügung-Stellen der Kranken. Frank hat dennoch eine eigene Überzeugung. Eine feste Position von ihm, die er trotz Druck des Doktors aufrechterhält, ist die, daß eine Elktrokrampftherapie nur in ganz wenigen Fällen angebracht ist. In Fällen, die diese strenge Indikation nicht erfüllen, weigert sich der Pfleger Frank, dem Arzt zu assistieren. Das ist Arbeitsverweigerung. Frank kann sich das nur leisten, weil er fast Oberpfleger ist und schon fünfmal länger auf dieser Station arbeitet als der Doktor, für den die Station nur eine Durchgangsstelle ist. Ein anderer als Frank würde für diese Haltung gefeuert.

Der Doktor: Er kommt aus Bayern. Aus München. Mindestens einmal am Tag weist er alle darauf hin, indem er entweder irgendeinen bayerischen Kraftausdruck wie „Jo mei!“ verwendet oder indem er einen Satz beginnt mit: „Bei uns in Bayern haben wir das aber einfach so gemacht...“

Der Mann sieht aus wie geleckt. Jeden Tag genau gleich geleckt. Er hat die dünnen Haare ordentlich nach hinten gekämmt. Sie sind nie länger als genau die Verlängerung des Ohrläppchens. Seine Rasur ist maximal glatt, die Backen glänzen danach wie seine Stirn. Das sauberste ist der Mund. Nicht mal vom Essen läßt der sich beschmutzen. Der frühere Berufssoldat reibt ihn schmatzend sauber mit einem Stofftuch.

Unterhalb des Mundes kommt der lange, steife, weiße Kittel, den er nie auszieht. Daran erkennt man, daß er von unten kommt. Sein primitives, weil geräuschvolles Hochziehen der Rotze alle paar Minuten und sein grobes Lachen hätte man nämlich auch deuten können als rücksichtslos-selbstvergessene Gesten eines Hochgeborenen. Noch ist er aber nicht soweit. Wenn ein Oberarzt oder Professor anwesend ist, ist der Ex- Soldat zurückhaltend. Und rotzt nicht.

Der Doktor ist zwar ehrgeizig, aber er strampelt nicht so lächerlich wie sein jüngerer Kollege auf der Station, der eine Tasse Kaffee nach der anderen trinken muß und abends nie vor acht nach Hause kommt, obwohl er nicht benötigt wird. Der Münchner macht sich nicht kaputt, ist maßvoll in allem, denkt einfach und gradlinig. Und lebt auch so.

Die Grundlage für sein psychiatrisches Handeln ist folgende Argumentation: Es gibt ein klares Kriterium für die Kennzeichnung „krank“. Das ist die Fähigkeit zur selbständigen Lebensbewältigung. Dazu gehört das Arbeiten als wichtigstes Element „der Autonomie des Menschen“. Für den Arzt sind es sichere Krankheitszeichen, wenn jemand freiwillig in die Psychiatrie kommt und wenn er sich nicht anpaßt, um schnellstens wieder hinauszukommen. „Wer die Spielregeln befolgt, ist bald wieder draußen.“ Das sagt er auch den Patienten. Er zeigt ihnen die Alternativen auf, die sie haben. Wenn sie ihr Medikament nehmen, ist das der „schnellste Weg, wieder rauszukommen“. Und wenn sie es nicht nehmen, werden sie gezwungen.

Der Doktor hält sich die Kranken vom Halse. Er ist der, der am konsequentesten die Patienten hinausbefiehlt, wenn die sich wieder in den Personalaufenthaltsraum drängen, um dort zu rauchen und zu reden oder einfach nur dazustehen. Er kann das nicht leiden. Und er ist nicht der Typ, der etwas bereut oder Magenschmerzen bekommt, weil er die Kranken leiden sieht.

Die Patienten mögen ihn nicht. Angst haben sie vor ihm. Kritisieren tun sie ihn auch nur hinter seinem Rücken. Hin und wieder hört man auch Gutes von einem Patienten. Daß der Doktor ihnen geholfen, „durch Gespräche die Familie wieder gekittet“ habe.

Nicht so Wolfram, der junge, neurotische Familientyrann, den die Eltern völlig verzweifelt in die Psychiatrie brachten. Es wurde deutlich, daß der Junge getrennt werden mußte von seiner Familie, damit er sie nicht mehr tyrannisiert. Die Trennung fand auf der geschlossenen Station sofort statt, und der Arzt verlangte außerdem, daß der Junge sich eine Wohnung sucht. Was dieser prompt tat. Er tat alles, was ihm aufgetragen wurde: Neue Kleidung kaufen, Haare waschen und kämmen, Musiktherapie. Seine Zwangssymptomatik ließ rapide nach. Er wurde fast symptomfrei. „Das ist nur Fassade, der Junge versteckt sich“, meinte der Arzt und ordnete Fluxanol, ein Neuroleptikum, an. Wolfram brach weinend zusammen, als er das erfuhr. Er war froh, keine Medikamente nehmen zu müssen und „zu werden wie die anderen“ und verstand nicht, warum er es nehmen sollte. Jetzt nimmt er die Tabletten. Und wenn er gelegentlich noch immer hüpft oder schreit, sagt der Arzt: „Hör auf mit dem Scheiß.“

Es gibt verschiedene Ansichten über Zwangsmedikamentation. Die einen sagen – es ist die Mehrheit und zu ihr gehört unser Doktor –, daß bei richterlicher Unterbringung eines Patienten eine (Zwangs)-Medikamentation beinhaltet ist, denn wofür sollte hier jemand sein, wenn nicht zur Therapie: „Wir sind hier ja nicht im Knast.“ Die anderen sagen, daß aus dem Unterbringungsbeschluß nicht automatisch eine Therapie erfolgen muß, denn der Grund für die Einweisung ist Fremd- oder Eigengefährdung. Und die macht nicht zwingend eine Therapie notwendig.

Des öfteren ist es für den Psychiater schwierig genug, die uneingeweihten, mitunter aber liberalen Richter davon zu überzeugen, daß es notwendig ist, einen Patienten zwangsweise hierzubehalten. Und wenn sie ihn dann behalten können, dann möchten sie ihn natürlich auch therapieren. Sie wollen und müssen seine Krankheit bekämpfen. Sie wollen und müssen forschen, denn das ist eine Universitätsklinik. Aus diesen Gründen wollen und müssen die Psychiater die Kranken zwangsmedizinieren: „Um aber die Wirkung der Medikamente möglichst genau zu sehen, muß jede andere Form der Therapie weitgehend vermieden werden. Psychotherapie etwa verfälscht und verzerrt Medikamenteneinwirkung“, so ein Psychologiestudent, der seit Jahren auf der Station als Pfleger arbeitet.

Die medikamentöse Therapie kommt vor der Diagnosestellung. Eine klare Diagnose aber ist in den seltensten Fällen zu stellen. Allgemeine Diagnoseformeln müssen gefunden werden. Die Diagnose ist nicht entscheidend, es werden sowieso immer wieder dieselben Medikamentengruppen verwendet. Haloperidol etwa ist ein Medikament, das Kranke mit unterschiedlichen oder keinen Diagnosen bekommen. Weil es wirkt.

Nur werden dabei die psychiatrisch Kranken zu neurologisch Kranken gemacht. Derjenige, der vorher Stimmen hörte und dabei normal gehen konnte, hört mit Halodol keine Stimmen mehr, kann aber nicht mehr richtig laufen oder läuft dauernd irre umher.

Der Doktor aus München ist der unumstrittene Boß der Station im Normalbetrieb. Er leitet die Teamsitzungen. Und er hat eine Gehilfin.

Sie ist Medizinstudentin in ihrem praktischen Jahr, die hier für drei Monate eingesetzt ist. Der Doktor läßt sich Texte von ihr kopieren. Den Patienten gegenüber tritt die Studentin als Ärztin auf. Ihr Chef hat ihr sogar zwei Patienten überlassen, die sie nun mehr oder weniger selbständig behandelt. Der Doktor verteidigte „seine Kollegin“ einmal vehement gegenüber Kritik der Ergotherapeuten, die sich darüber beklagten, daß die angehende Ärztin Termine, die Patienten bei ihnen haben, ignoriere. Statt dessen bestelle sie Patienten zu eben diesen Zeiten zu sich. Da hat er nichts auf sie kommen lassen.

Zwei ganz unterschiedliche Patienten, die sich küssen: Da ist einmal der „privilegierte Patient“. Ein namhafter Architekt, Nachbar eines Oberarztes der Klinik. Auf dessen Veranlassung erhält er auch gleich ein Bett in einem geräumigen Zweibettzimmer. Herr Blaume verbindet die Funktionalität der Architektur mit dem sozialen Prozeß der Entstehung eines Hauses. Er leitet ein Projekt, das sozial benachteiligte Jugendliche in Bauberufen ausbildet und dabei Häuser restauriert und für Kulturgruppen nutzbar macht. Zuletzt nahm Herr Blaume für die 60 Azubis immer mehr Projekte an. Bis er zusammenbrach.

Er bekam Halluzinationen und hörte Stimmen, nach denen er schlug. So heftig, daß sie ihn einlieferten. Zuerst erhielt er Halodol, aber man stieg schnell um auf ein niedriger potentes Mittel. Für Herrn Blaume war Halodol „unakzeptabel, weil die Nebenwirkungen zu stark sind“.

Herr Blaume war immer elegant gekleidet, seine Sprache gewählt. Mitunter verwickelte er den Arzt in eine Diskussion. Bei den Pflegern war Herr Blaume schnell unbeliebt. Er war ihnen zu arrogant, zu gebildet. Einmal übernahm er auf einem Ausflug sogar die Führung und funktionierte den ursprünglich geplanten Spaziergang durch den Tierpark um zu einer architektonischen Führung. Der begleitende Pfleger warf ihm später vor, er manipuliere die anderen, teils hilflosen und unbedarften Mitpatienten.

Der fidele Architekt hielt sich für beliebt und war der Meinung, er könne die Station „verändern, wenn ich nur länger hier wäre“. Aber bereits nach fünf Wochen wurde es ihm zu lang hier, und er drängte auf Entlassung. Seine Arbeit hatte er bereits wieder aufgenommen, von der Klinik aus. Die Entlassung wurde auch zügig vollzogen. Alle waren irgendwie erleichtert, als er wieder weg war.

Bis auf einen vielleicht, ein Mitpatient, der seit 30 Jahren schwer krank ist und nie gesund werden wird: ein Chroniker.

Herr Mahlow ist schizophren. Alle paar Jahre hat er fürchterliche Schübe, die seinen Gesamtzustand jedesmal verschlechtern. Inzwischen kann er nicht mehr selbständig leben. Er ist alt und häßlich. Er pinkelt sich in die Hose, seine Finger sind braungelb vom Tabak. Er hat kaum noch eine Sprache, ist dumpf und niedergedrückt. Manchmal drückt er einem zart die Hand, oder er trägt Geschirr von den Pflegern in die Küche. Sonst macht Herr Mahlow nichts. Seine Medikamente nimmt er brav, er ist geradezu fixiert auf Taxilan. Manchmal holt er sich das schon vor der Zeit.

Bis vor drei Wochen war das noch anders. Zu der Zeit hatte er mehrmals täglich aggressive Ausbrüche. Herr Mahlow war unberechenbar. Manche Mitpatienten hatten Angst vor ihm. Er wurde häufig fixiert. Seine Medikation wurde so gesteigert, bis er platt war. Man mußte nun zur Kontrolle seinen Blutdruck messen. Da lag er in seiner Pisse, schrie und stank. Endstation Psychiatrie.

Aber da kam Herr Blaume auf die Station und sah Herrn Mahlow. Er sah ihn leiden und sah auch, wie seine akute schizophrene Krise hier behandelt wurde. Herr Blaume kritisierte das Vorgehen einiger Pfleger bereits zaghaft, eine ganz ungewöhnliche Solidarisierungsgeste. Herr Blaume ging in seiner angstlosen und souverän-ungebrochenen Art auf den Zerschundenen zu und umarmte ihn. Er wußte, daß Herr Mahlow das mochte. Er wußte auch, daß der Alte schwul ist. Er meinte, er „wende die Therapie der Liebe an“. Herr Blaume ließ sich sogar küssen von dem Häßlichen. Später glaubte Herr Blaume, seine „Therapie“ habe zur Verbesserung im Zustand des Herrn Mahlow entscheidend beigetragen.

Herr Mahlow hat nie mehr nach Herrn Blaume gefragt. Ob er ihn vergessen hat?

Die Namen aller Personen wurden geändert.

Der Autor, 26, absolviert zur Zeit eine Ausbildung zum Krankenpfleger in Berlin. Im Rahmen dieser Ausbildung arbeitete er mehrere Monate auf einer geschlossenen psychiatrischen Station in Berlin.

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