Meisterstück Wiedervereinigung: Die wunderbaren Jahre

Wenn die falsche Geschichte von den benachteiligten Ostbundesländern durch Nicken ständig verstärkt wird, darf man sich nicht wundern, wenn die AfD Mehrheitspartei wird.

Videoprojektion einer DDR-Fahne am Tag der Deutschen Einheit in Erfurt Foto: dpa

Von UDO KNAPP

„Vielen Menschen im Osten sind Freiheit und Wiedervereinigung geschenkt worden. Sie haben dafür keinen Finger gerührt. Jahrzehntelang wurde im Westen die Mär erzählt, dass der ganze Osten aufgestanden sei gegen die kommunistische Diktatur (…) Es war nur eine kleine Minderheit, die vor dem 9. November gegen die Diktatur aufgestanden oder geflüchtet ist. (…) Die Einheit und die Freiheit werden von vielen Menschen im Osten heute mit Füßen getreten.“

Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker, im Tagesspiegel

taz FUTURZWEI, 11.10.2022 | Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis in der Bundesrepublik das Verdrängen der direkten Beteiligung von Millionen Deutschen an den Nazi-Verbrechen gebrochen werden konnte. Das von den Alliierten verordnete Hinüberwachsen der Bundesrepublik in eine freiheitliche Gesellschaft an der Seite der westlichen Demokratien war ein Glücksfall und letztlich nur den welthistorischen Umständen geschuldet.

Einen vergleichbaren Prozess einer verordneten und selbstgestalteten Emanzipation der DDR-Bürger hat es bei der Wiedervereinigung nicht gegeben. Die DDR wurde nach ihrer Abwicklung in Gestalt der neuen Bundesländer an die Bundesrepublik angeschlossen. Eine andere praktikable Möglichkeit hat es nicht gegeben. Ein politisches Subjekt in der alten DDR gab es nicht, das eigene und breit getragene Ansprüche auf einen Neuanfang des wiedervereinigten Deutschlands hätte auf den Weg bringen können. Einen politischen Willen auch nicht, sich in der Bundesrepublik einem solchen Abenteuer mit offenem Ausgang auszusetzen. Stattdessen wurde der Anschluss von der Bundesrepublik hochprofessionell und zügig mittels Billionen Mark und Euro der Steuerzahler der Bundesrepublik und Tausender in den Osten versetzter Beamten vollzogen.

„Die DDR war nicht nur ein Ort, von dem man abhauen wollte, sondern auch ein Land der Möglichkeiten, ein gelobtes Land. (…) Die DDR war nie die bessere Gesellschaft. Aber sie existierte ein paar Jahrzehnte auch durch die Illusion vieler, dass sie eine bessere Gesellschaft werden könnte. An dieser Illusion haben viele bis zum letzten Tag der DDR festgehalten. Aber Hoffnung ist ein Fehler. Wenn Du versuchst, etwas zu reparieren, was kaputt ist, also wirklich kaputt, wirst du verrückt. Wir Ostdeutschen sind daraus schlau geworden, aber auch störrisch gegenüber dem andauernden Vokabular des Westens aus dem Wortschatz des Kalten Krieges.“

Lutz Pehnert, Filmemacher, im Tagesspiegel

Es ist ein historisches Meisterstück der alten Bundesrepublik, dass eine weitgehend unbrauchbare und nicht anschlussfähige Staatsindustrie abgewickelt wurde, dass bis Anfang der 90er Jahre noch einmal fast zwei Millionen vorwiegend junge Frauen und Männer in den Westen gegangen und dort geblieben sind und damit der Gesamtwirtschaft der Republik erfolgreiche Jahre ermöglicht haben, dass die NVA aufgelöst, ihre Reste in die Bundeswehr integriert und der Abzug der russischen Truppen ohne Probleme vollzogen wurde, dass rechtsstaatliche Strukturen, eine gesetzesbasierte Verwaltung und politisch anschlussfähige parlamentarische Parteien auf den Weg gebracht wurden und dass funktionsfähige technische und soziale Infrastrukturen buchstäblich aus dem Nichts neu aufgebaut wurden.

Die Funktions-Eliten der neuen Länder kamen vorwiegend aus der zweiten Reihe des Westens. Das war aber keine imperialistische Landnahme, sondern notwendige Bedingung für die erfolgreiche Erweiterung der Bundesrepublik. Den neuen Bundesbürgern wurden Lebenschancen eröffnet, von denen sie bis dahin nur träumen konnten und die vor allem von Frauen intensiv genutzt worden sind.

Das Narrativ vom benachteiligten Osten ist eine Verdrehung der Realität

Doch anstatt diese hier nur sehr kurz beschriebene Entwicklung als solche zu präsentieren und den Ostdeutschen an jedem 3. Oktober die letzten 30 Jahre als eigene und erfolgreich gestaltete Geschichte im Bewusstsein zu verankern, werden die bundesweit alltäglichen Differenzen in den Lebensverhältnissen zwischen Nord und Süd oder zwischen Stadt und Land, sowie die bundesweit dramatischen demographischen Entwicklungen auf einen angeblich willkürlichen, rücksichtslosen und ungerechten Anschluss zurückgeführt. Wenn dieses Verdrehungs-Narrativ von den benachteiligten Ostbundesländern immer weiter durch anbiederndes Akzeptieren bestätigt wird, dann verwandelt sich die Lebensrealität Vieler eines verregelten, bespitzelten Leben in einer Diktatur in nostalgische Gefühle eines verlorenen Lebensglücks. Und dann muss man sich nicht wundern, dass nach jüngsten Umfragen die AfD in den neuen Ländern mit 28 Prozent Zustimmung zur stärksten politischen Kraft gewachsen ist.

Let's face it: Die DDR war 1989 am Ende. Sie ist an sich selbst gescheitert, sie war nicht zu reparieren, auch nicht von der sympathischen, mutigen, von vielen von uns geliebten Opposition der letzten Jahren dieser DDR. Dank Kohl, Gorbatschow und den Alliierten war die Bundesrepublik zur Stelle und bereit. Das war gut so und diese Geschichte des Erfolgs gilt es zu erzählen, wenn der Lust auf autokratische Alternativen in den Neuen Ländern der Boden entzogen werden soll.

Mit der entideologisierten Betrachtung der Wiedervereinigung als gut organisiertem Anschluss geht auch für die systemkritische Opposition im alten Westen die wehmütig beschriebene Projektionsfläche einer unangepassten Geisteswelt in der alten DDR verloren. Das schmerzt, so wie alle Abschiede von liebgewordenem Selbstbetrug und schon immer unerfüllbar gewesenen Hoffnungen weh tun. Sarah Kirsch hat ihr verzweifeltes Scheitern an der Wirklichkeit der DDR und der Bundesrepublik schon 1969 in ihrem Gedicht „Fahrt II“ poetisch präzise erfasst. Ein Auszug:

Aber am liebsten fahre ich Eisenbahn durch mein kleines wärmendes Land in allen Jahreszeiten (…) Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Lands zuIch komme dem Meer entgegen den Bergen oderNur ritzendem Draht der durch Wald zieht, dahinterSprechen die Menschen wohl meine Sprache, kennenDie Klagen des Gryphius wie ichHaben die gleichen Bilder im FernsehgerätDoch die WorteDie sie hörn die sie lesen, die gleichen BilderWerden den meinen entgegen sein, ich weiß und sehKeinen Weg der meinen schnaufenden ZugDurch den Draht führtGanz vorn die blaue Diesellok

Sarah Kirsch ist 1977 in die Bundesrepublik geflohen.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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