Mehr als 100 Straftaten: Kind überfordert Jugendamt
Ein schwer auffälliger Zwölfjähriger aus Neukölln wird in ein unbekanntes Projekt in Kirgisien gesteckt. Begründung: In Deutschland will ihn niemand aufnehmen. Reicht das für eine erfolgreiche Resozialisierung?
Der Junge aus Neukölln, nennen wir ihn Rüdiger, hat einiges auf dem Kerbholz: Raub, Körperverletzung, Diebstahl, oft im Drogenrausch begangen. Mit elf Jahren fiel er der Polizei erstmals auf. Inzwischen ist Rüdiger 13, und damit noch strafunmündig. Wäre Rüdiger älter, würde er im Verdacht stehen, mehr als 100 Straftaten begangen zu haben. Als das Neuköllner Jugendamt, das sich seit eineinhalb Jahren um Rüdiger kümmert, nicht mehr weiter wusste, schickte es ihn im März 2009 in ein Erziehungsprojekt nach Kirgisien, 5.000 Kilometer von Berlin entfernt, zwischen Usbekistan und China. Dort lebt er dem Amt zufolge bei einer Familie auf einem Bauernhof. Doch weil er "wieder auffällig wurde", soll er dort ein weiteres halbes Jahr bleiben.
Es ist ein außerordentlicher Fall. Vor allem das Vorgehen des Neuköllner Jugendamts wirft mehrere Fragen auf. Offenbar wurde der Junge nach Kirgisien geschickt, unter anderem, um Staatsgelder zu sparen. Zudem ist der Träger des Projektes in Kirgisien weitgehend unbekannt. Die Wahl des Jugendamtes ist in einem solch sensiblem Fall zumindest fragwürdig, denn Kirgisien fiel immer wieder mit unseriösen Erziehungsprojekten für deutsche Jugendliche auf.
"Ein Zwölfjähriger wurde nach Kirgisien verschickt?" Jugendamtsangestellte aus anderen Bundesländern reagieren ungläubig, wenn man ihnen von dem Fall erzählt. So etwas käme höchstens bei sehr auffälligen Jugendlichen vor, die aber in der Regel einige Jahre älter seien.
Wie heikel der Fall ist, zeigt sich in der Familiengeschichte Rüdigers. Mit seiner Mutter und sieben Geschwistern war er vor zwei Jahren aus einem Roma-Lager in Polen nach Deutschland übergesiedelt. Die Familie war vorher in anderen Ländern Europas unterwegs gewesen, Rüdiger beherrscht mehrere Sprachen auf schlechtem Niveau. Die Familienverhältnisse sind so instabil, dass der Leiter der Neuköllner Jugendgerichtshilfe, Thomas Weylandt, von einem "mehrfach traumatisierten und missbrauchten Jungen" spricht.
Doch: "Warum wird ein Junge, der unter solch problematischen Umständen gerade in Deutschland angekommen ist, wieder weg geschickt?" fragt Jörg Ziegenspeck vom Institut für Erlebnispädagogik an der Lüneburger Universität. Für Kinder, die besonders auffällig werden, kann es durchaus sinnvoll sein, im Ausland untergebracht zu werden. Man holt sie damit möglicherweise aus einem schädlichem Umfeld heraus, meist kommen sie in einfache Umgebungen - oft Bauernhöfe -, in denen klare Regeln gelten, die akzeptiert und befolgt werden müssen. Auch Rüdiger soll in Kirgisien lernen, "einfache Regeln zu beachten" heißt es aus dem Jugendamt.
Laut Bundessozialgesetz dürfen Kinder und Jugendliche aber nur ins Ausland verschickt werden, wenn es in Deutschland keine Alternative gibt. Im Oktober 2005 verschärfte der Bundestag nochmals die Bestimmungen, weil die Jugendlichen im Ausland häufig straffällig wurden und es deshalb diplomatische Spannungen gab. Seitdem muss das zuständige Jugendamt begründen, warum ein Auslandsaufenthalt weiter helfen werde. Es geht um pädagogische Argumente - die Begründung von Rüdigers Kirgisien-Aufenthalt hört sich aber ganz anders an.
"Wir haben in Deutschland kein Heim gefunden, das ihn aufnehmen würde", sagte die Neuköllner Jugendstadträtin Gabriele Vonnekold (Grüne) der taz. Und bei einer Gesprächsrunde zu Jugendkriminalität vor wenigen Tagen erklärte der Leiter der Jugendgerichtshilfe in Neukölln, Thomas Weylandt: "Die einzige Alternative wäre gewesen, den Jungen hier in die Kinderpsychiatrie zu schicken. Das wäre aber um einige hundert Euro täglich teurer gewesen." Der Aufenthalt in einem Erziehungsprojekt im Ausland kann bis zu 200 Euro pro Tag kosten.
Dass die Kosten für den Staat der ausschlaggebende Grund waren, geht auch aus einem Protokoll des Berliner Jugendhilfeausschusses aus dem vergangenen Jahr hervor. Dort steht, die Unterbringung sei in Kirgisien bedeutend billiger als in "vergleichbaren Einrichtungen in Berlin/Brandenburg". Das Jugendamt sieht das anders: "In diesem Fall ging es vor allem darum, wer bereit ist, den Jungen aufzunehmen", sagte Vonnekold. "Da haben wir in Deutschland alles abgegrast." Im Ausland sei jedoch außer Kirgisien kein weiteres Land berücksichtigt worden.
Kirgisien ist eine fragwürdige Wahl. Vor mehreren Jahren verschwand dort etwa ein 17-jähriger Jugendlicher aus Deutschland aus einem Erziehungsprojekt. Als er nach zwei Monaten wieder auftauchte, schrieb er in seiner Entschuldigung, dass es ihm bei den "fremden Menschen" noch schlechter gegangen sei als bei seinem Betreuer.
Die Universität Lüneburg und das Baltic College in Güstrow untersuchten im vergangenen Jahr im Auftrag des Auswärtigen Amts Erziehungsprojekte im Ausland und gaben die Studie "Betreuungsreport Ausland" heraus. 80 Jugendliche wurden in 13 Ländern besucht - Kirgisien, wo zwei Jugendliche auf einem Bauernhof lebten, war das Extrembeispiel. "Die Jungs haben mit einer Kamera ihre Lebensumstände gefilmt", sagt Torsten Fischer vom Baltic College. "Die aufnehmende Familie sprach kein Deutsch. In einer Szene stand einer der Jungs auf einem Hof, wo Hühner zwischen Menschen- und Tierkot pickten."
Das Projekt in Kirgisien, das das Neuköllner Jugendamt für Rüdiger auswählte, ist weitgehend unbekannt. Aus dem Verein Treberhilfe, der dem Jugendamt den Träger in Kirgisien vorschlug, ist zu hören, dass das Projekt durch eine "Internetrecherche" gefunden wurde. Vorher habe man noch nie mit ihm zusammengearbeitet, obwohl er auch Projekte in Brandenburg habe. Laut Neuköllner Jugendamt ist der Träger international anerkannt. Das begründe sich darin, dass er auch Projekte in Irland habe.
"Kein Mensch kennt diesen Träger", sagt hingegen Torsten Fischer vom Baltic College. Dessen Seite im Internet belege laut Fischer: "Null pädagogisches Standing, keine institutionelle Einbindung." Auch bei den einschlägigen Bundesverbänden für Individualpädagogik ist das Unternehmen kein Mitglied und unbekannt. Eine Mitgliedschaft bei den Verbänden gilt - wegen Verpflichtungen zur Selbstkontrolle - bei den Jugendämtern als inoffizielles Qualitätssiegel.
Es kann ausgeschlossen werden, dass Rüdiger auf dem untersuchten und beanstandeten Bauernhof landete; möglicherweise geht es ihm in seinem Projekt auch gut. Dem Geschäftsführer des Trägers zufolge betreut eine Psychologin mit guten Deutschkenntnissen den Jungen einmal pro Woche. Seine Gastfamilie habe einen Deutschkurs bekommen. Auch Jugendstadträtin Vonnekold ist überzeugt, dass der Junge gut betreut wird. Eine Sozialarbeiterin ihres Amtes und Rüdigers Mutter hätten Kontakt mit ihm; seine Mutter sei mit der Maßnahme einverstanden. "Aber wir können nicht ausschließen, dass dort nicht gehalten wird, was versprochen wurde", sagt Vonnekold. So gut könne das Amt Projekte im Ausland nicht kontrollieren. Die Verlängerung von Rüdigers Aufenthalt spricht zumindest gegen einen raschen Erfolg der Maßnahme.
Immer wieder betont Gabriele Vonnekold, dass Kinder und Jugendliche nur in absoluten Einzelfällen ins Ausland verschickt würden. In Neukölln ist es laut Vonnekold der erste Fall seit einiger Zeit. Und dass ein Zwölfjähriger so weit weg geschickt wird, ist nach taz-Recherchen die absolute Ausnahme. Der Bundesverband Intensiv- und Erlebnispädagogik zählte im Sommer 2009 unter seinen Mitgliedern aber 18 Fälle, in denen Jugendliche aus Berlin zu einem "intensivpädagogischen Erziehungsprojekt" geschickt wurden. Ein einziger blieb in Deutschland, alle anderen befanden sich in Spanien und Portugal, aber auch in Kirgisien. In der Statistik kommt Rüdiger natürlich nicht vor - sein Träger ist ja nicht Verbandsmitglied.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken