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Archiv-Artikel

Mehr Politikverdrossenheit

Die Initiative „Mehr Demokratie“ kann ihr Gegenteil bewirken. Denn mit der Abschaffung der Listenplätze würden die Abgeordneten anfangen, auf ihre Wähler zu schielen – und damit übergeordnete Interessen aus dem Blick verlieren

ALEXANDER PORSCHKE, 55, ist ein Hamburger Politiker (GAL) und war von 1997-2001 Umweltsenator.

Im Januar hat die Initiative „Mehr Demokratie“ zum zweiten Mal ein Volksbegehren für ein neues Wahlrecht in Hamburg gestartet. Ihr Ziel ist es, am 27. September zusammen mit der Bundestagswahl einen endgültigen und verbindlichen Volksentscheid für ein neues Wahlrecht zu erreichen. Mit dem neuen Wahlrecht würde die Wahl von Partei-Listen abgeschafft und durch eine ausschließliche Personenwahl ersetzt werden. Damit hofft man, eine größere Nähe der Politiker zum Volk zu erreichen und der Politikverdrossenheit entgegen zu wirken.

So richtig die Absicht, so ungeeignet erscheinen mir die vorgeschlagenen Änderungen: Während meines dreijährigen Aufenthaltes in Peru ist mir deutlich geworden, welche Risiken in den Vorschlägen liegen. Erstens: Für den Erfolg von Kandidaten ist nach dem neuen Verfahren viel wichtiger, welche Wählergruppen die Person individuell mobilisieren kann, als die Frage, wie weit ihre Vorschläge in ein Gesamtkonzept einer Partei passen. Das wirkt wie eine Einladung zu individuellen Wahlversprechen an die eigene Klientel, auch auf Kosten des Konzepts, das den Charakter von Parteien ausmacht. Im Erfolgsfall des Kandidaten fühlt dieser sich dann eher den Sonderwünschen seiner Klientel verbunden, als der Linie der Politik, die ihn auf die Liste gehoben hat. So werden – entgegen der Absicht der Befürworter dieser Regelung – die politischen Entscheidungsprozesse noch weniger vermittelbar. Frust und weitere Politikverdrossenheit sind programmiert. In Peru hat das dazu geführt, dass ganze Parteien eher Seilschaften als politischen Konzept-Verbänden gleichen.

Zweitens: Während in der Parteiendemokratie auch zwischen den Parlamentswahlen politische Richtungsklärungen erfolgen können – die Parteien haben ja die Vertreter entsandt – müssen direkt vom Volk gewählte Abgeordnete nur alle vier Jahre ihre Entscheidungen vor ihrer Basis legitimieren. Das überlässt ihnen einen größeren Spielraum, die Stimmen ihrer Wähler zu missbrauchen. Ihre Wähler sind wegen der geheimen Wahl ja nicht artikulationsfähig.

Drittens: Schon die Einführung von Wahlkreisen hat zu einer Verringerung der gesamtstädtischen Orientierung im Landesparlament geführt. Denn schon jetzt beziehen sich vermehrt Abgeordnete auf ihre Basis in den Wahlkreisen statt auf das gesamtstädtische Interesse. Die dadurch entstandene Minderung gesamtstädtischer Orientierung mag als Preis für mehr Basisbezug unvermeidbar sein. Eine weitere Unterminierung der gesamtstädtischen Orientierung liefe jedoch Gefahr, den Provinzialismus eskalieren zu lassen.

Viertens: Die direkte Auswahl der Personen durch die Wähler mindert die Möglichkeit, Ausgewogenheiten auf den Listen herzustellen. Weder fachliche Kompetenz, Gendergerechtigkeit, Integration von Minderheiten noch politische Strömungen lassen sich dann mehr durch die Listenzusammensetzung steuern. Denn während bei Listenaufstellungen die Kandidatenauswahl auch von den vorherigen Listenplatzbesetzungen mitbestimmt wird, entfällt diese Möglichkeit beim Wähler.

Fünftens: Schließlich können die Teilnehmer von Listenaufstellungen die Kandidaten durch direktes Befragen und Beobachtung ihres bisherigen realen Verhaltens meist besser beurteilen, als die Wähler, deren Information über die Kandidaten überwiegend über Medien erfolgt.

Natürlich ist mir auch klar, dass viele Parteientscheidungen in unserer Demokratie von Außenstehenden als frustrierend empfunden werden. Die entstandene Parteienverdrossenheit gibt der Initiative deshalb auch Rückenwind. Im Ergebnis muss jedoch befürchtet werden, dass die Politikverdrossenheit durch Abgeordnete, die mehr auf ihre persönlichen Wähler als auf die gesamtstädtischen Interessen schielen, eher zunimmt. Dann hätten wir weniger statt mehr Demokratie. ALEXANDER PORSCHKE