Medien: Gruseln und hoffen
Für die Welt war 2023 nicht erfreulich. Und weil das alles so deprimierend ist, haben wir für diesen Rückblick auch Gutes zusammengetragen.
Von Anna Hunger
Gleich zu Beginn was fürs Gemüt: Lesen Sie unbedingt unsere Schüler:innen-Ausgabe. Wir versprechen Ihnen, es lohnt sich. Im Sommer und Herbst 2023 haben wir mit Klassenlehrerin Jennifer Kurrle und ihrer 8b der Bismarckschule in Feuerbach eine eigene Kontext-Ausgabe gemacht. „Ach, das schaffen wir doch eh nicht, wir sind ja nicht auf dem Gymnasium“, sagte ein Schüler zu Beginn des Projekts. Ja von wegen. Sieben wunderbare Artikel sind herausgekommen, kritisch und aufmüpfig, nachzulesen unter: https://www.kontextwochenzeitung.de/bismarckschule-8b.html
Im Kontext-Jahr hat sich auch abseits der Schulbank einiges getan. Wir sind umgezogen. Raus aus der Hauptstätter Straße, aus den Räumen, in denen Kontext geboren ist und seine Jugend verbrachte. Im zwölften Jahr der eigenen Geschichte haben wir mit unserer Zeitung die Hermannstraße bezogen.
Damit einher ging auch ein Generationenwechsel bei unserer Zeitung. Fünf Jahre hatte Mitgründerin Susanne Stiefel als Chefredakteurin das Ruder in der Hand und hat es nun, rentenbedingt, abgegeben. Die Redaktion wählte Anna Hunger und Gesa von Leesen zu ihren Nachfolgerinnen. Im April haben sie übernommen, dem Monat des deutschen Atomausstiegs. „Ein erstaunliches Phänomen“, meinte damals unser Gastautor Axel Mayer, Anti-Atomkraft-Demonstrant der ersten Stunde. „Seit wann setzen sich in ‚a rich man‘s world‘ die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?“
Gute Frage. Manchmal setzen sich die Kleinen nicht durch, hatten aber recht. Bei Stuttgart 21 ist das beinahe Usus, denn fast alle Probleme, die Bahnhofsgegner:innen vorhergesagt hatten, sind eingetreten (dazu eine Chronologie auf den Seiten 2 und 3).
An der Bahn-Front gab es für uns auch sehr Trauriges zu verzeichnen: Im Mai haben wir mit Winfried Wolf nicht nur einen der profundesten Bahnkenner verloren, sondern auch einen langjährigen Mitarbeiter und Freund. Mach es gut, Winnie.
2023 durften wir eine Vielzahl toller Menschen kennenlernen, denen unser Respekt gehört. Leute wie Ismail Mutlu aus Geislingen, der Spenden gesammelt hat, nachdem im Februar gewaltige Erdbeben in der Türkei Tausende Menschen in Not hinterließen.
Oder die israelische Palästinenserin Larissa Abdelhadi, Architektin aus Stuttgart, die ausgerechnet am 9. Oktober, kurz nach dem Hamas-Überfall, in Israel erstmals Freundlichkeit von jüdischer Seite erlebte. Auf dem Flughafen in Tel Aviv saß sie gemeinsam mit mehreren ultraorthodoxen Frauen und wartete, alle in Fassungslosigkeit und Angst verbunden. „Warum muss erst etwas so Schreckliches geschehen, damit wir begreifen, dass wir alle verletzlich sind?“
Samir Alicic, der langjährige Betriebsratschef des Stuttgarter Pressehauses, gehört auch in die Riege der Mutigen, die sich gegen Unrecht wehren. Plötzlich stand er vor seinem verschlossenen Büro: Türschloss ausgewechselt.
Kontext hatte 2023 einige wirklich große Erfolge zu verzeichnen. Nahezu jede Zeitung hat Susanne Stiefels Interview mit Christine Prayon, der Kabarettistin, die nicht mehr in der „Heute-Show“ auftreten mag, zitiert und diskutiert. Von „Spiegel“ bis „Bunte“!
Ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit bekam auch unser Rechtsstreit mit einem Neonazi, den wir seit 2018 ausfechten. Die Redaktion von Jan Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ interessierte sich für unseren Fall und zack – waren wir im Fernsehen! Und nicht nur das: Wir waren in derselben Sendung wie Günter Wallraff! Der Mann, der sich bei „Bild“ eingeschlichen hat, Ikone ungezählter Kolleg:innen seit Jahrzehnten. Per Mail erreichten uns folgende Worte: „Ich darf mich geehrt fühlen, dass wir an diesem Tag Seit an Seit standen. Solidarische und herzliche Grüße aus Köln, Günter Wallraff“. Das geht runter wie Öl.
Vor Gericht werden wir auch 2024 wieder sein. Gegen den Neonazi. Und vielleicht auch gegen Andreas Renner, den mittlerweile suspendierten Inspekteur der Polizei, der keinesfalls „Geschlechtsteil + Berufsbezeichnung“ genannt werden möchte.
In beiden Fällen hätten wir ohne Sie ganz schön alt ausgesehen. Allen unseren Spender:innen gebührt ein herzlicher Dank!
Wir haben 2023 auch berichtet über den Zollbeamten, der die Adresse eines unserer Autoren an einen Neonazi weitergab. Über die Gröner-Group, eine undurchsichtige Immobilienfirma, deren Bauprojekte nach der Benko-Pleite auf Eis liegen. Über Hubert Aiwanger, der einen Sammelbrief an einen Rechtsextremisten unterschrieben hat.
Wir schrieben über Öko-Häuser und Mut-Muskeln. Über die Rechtsradikalen der AfD, die uns auch im kommenden Jahr herausfordern werden: Bei drei Landtagswahlen im Osten, der Kommunal- und der Europa-Wahl. Also gilt es, Kräfte zu bündeln, auch in der Zivilgesellschaft.
Damit wünschen wir Ihnen einen gelungenen Start ins Jahr 2024. Bleiben Sie gesund, trotz allem gut gelaunt und solidarisch.
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