: Mechanik des Märchens
Die Täter und die Opfer, die Kunst und das Leben: Tina Lanik inszeniert Martin McDonaghs „The Pillowman“ an den DT-Kammerspielen und setzt dabei entschlossen, aber auch sorgsam und ganz ohne Drastik auf absurden Slapstick
„Wollen Sie mir sagen, dass ich keine Geschichten über Kindermorde schreiben soll, weil es in der Realität Kindermorde gibt?“ Nein, erst einmal wollen Inspektor Tupolski und sein Assistent Ariel wissen, warum eine Serie von Verbrechen so irritierend denen ähnelt, die der Schriftsteller Katurian in seinen Märchenerzählungen beschreibt. Unaufhaltsam und genüsslich entfaltet sich in „The Pillowman“ das Vexierspiel aus Fiktion und Wahrheit. Bald schon ist klar, dass Michal die Morde beging, um die Geschichten, die ihm sein älterer Bruder Katurian jahrelang zum Einschlafen vorgelesen hat, in der Realität auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Und Katurians Fantasie hat erst so schillernde Blüten getrieben, als ihm die Eltern in pädagogischer Experimentierlaune mit nachgespielten Folterszenen böse Albträume bereiteten.
Wer ist Täter, wer ist Opfer? Imitiert die Kunst das Leben oder das Leben nur auf Schaurigste die Kunst? Martin McDonagh spielt in seinem neuen Stück „The Pillowman“ ein geschicktes Katz-und-Maus-Spiel mit solchen Fragen. Zwei Theater haben sich um das geniale kleine Stück gerangelt und auf eine gemeinsame deutschsprachige Erstaufführung geeinigt. Am Wiener Akademietheater inszeniert Anselm Weber, an den Kammerspielen des Deutschen Theaters die junge Regisseurin Tina Lanik, die entschlossen auf absurden Slapstick setzt. Das signalisiert schon die Bühne: ein Puppenhauszimmer, das 45 Grad zur Seite gekippt ist und zwei neue Räume ergibt. Rechts liegen die Fenster am Boden eines angedeuteten Kinderzimmers, links ragt waagerecht in ein gräulich-weißes Verhörzimmer die Deckenlampe hinein. Sie erinnert an die Straßenlaterne in Artistenrevues, an der Sebastian Blomberg als Tupolski und Timo Dierkes als Ariel kleine Kabarettstücke inszenieren. Ihr karierten Anzüge sind von Sherlock Holmes ausgeliehen, nur geben sie sich dandyhafter. Dass die Kindheit rätselhafte Einflüsse auf die Erwachsenen ausübt, symbolisieren sie in der ganzen Spannbreite. Polizist Ariel wurde früher von seinem Vater vergewaltigt und foltert heute am liebsten Kinderschänder. Und Tupolski sagt: „Mein Vater war ein gewalttätiger Alkoholiker, und ich bin ein gewalttätiger Alkoholiker.“
Laniks nimmt das Stück, wie es ist, lässt es ohne gravierende Eingriffe spielen und folgt vorsichtig der Mechanik des Schachtelprinzips. Die Bühne ist zu Anfang eine geschlossene Holzkiste, die knarrend geöffnet wird. Hinter den Flügeltüren an der langen Wand offenbart sich die exakte Nachbildung des Vorderraums, in dem Kindheitsszenen nachgestellt werden. Vorne wechseln Verhöre mit Märcheneinlagen, wenn Frank Seppeler als Kanturian seine Geschichten vom „Apfelmännchen“ oder dem „Schriftsteller und seinem Bruder“ erzählt.
Lanik hat nicht nach Schreckensbildern gesucht. Wie im Märchen wird das Grausame mit so freundlicher wie ironischer Erzählhaltung absorbiert, und wie im Märchen setzt die Irritation darüber erst im Nachhinein ein. Die kalkuliert absurde Verkettung von Täter- und Opferschaft wird ironisch, aber ohne Drastik aufgezeigt. Es ist eine intelligente Inszenierung geworden, die ihre Ideen nicht überdreht, sondern sorgsam portioniert und eine doppelbödige Geschichte erzählt, deren Verstrickungen man gerne bis zum Ende verfolgt. SIMONE KAEMPF
30. 11., 4., 22., 27. 12., jeweils 20 Uhr, Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstr. 13 a, Mitte