: Mauer muss weg
Nach dem mühsamen 2:1 gegen Lettland freuen sich die Tschechen auf eine vermeintlich mutigere DFB-Auswahl
AVEIRO taz ■ Obwohl der Motor schon eine halbe Stunde brummte und längst alle Mitglieder der lettischen Delegation im Bus auf ihn warteten, hörte Aleksandrs Starkovs nicht auf zu reden. Als dann auch noch ein russischer Dolmetscher aufgetrieben wurde, gerieten letztendlich auch ein paar deutsche Reporter in den Debattierzirkel vom Baltikum. Seinen neuen Zuhörern hat der Trainer des EM-Debütanten, der offiziell unter dem Titel Generalmanager firmiert, dann geschildert, was er seinen Spielern nach dem 1:2 gegen Tschechien in der Umkleidekabine gesagt habe. „Ihr habt eure Aufgabe ehrenvoll erfüllt, ihr habt alles, was ihr auf dem Platz könnt, gezeigt.“ Nach einer kleinen Pause habe er der Mannschaft allerdings noch erklärt, sie solle nicht zu stolz auf sein Lob sein. „Denn im Fußball ist es immer noch das Wichtigste, dass man ein Tor schießt“, so Starkovs. Das allerdings hatten die Seinen doch getan.
Man muss dem 49-Jährigen in die Augen gucken, wenn er spricht. Dann kommen seine Worte nämlich nicht wie Phrasen aus der Kadersprache und Funktionärsschule des mittlerweile untergegangenen sowjetischen Sportreichs rüber, sondern ganz im Sinn des realen Ballgeschäfts, das nun eben auch Leuten wie Starkovs und Profis mit unaussprechlichen Namen aus noch viel exotischeren Städten, Firmen und Klubs eine Bühne bietet. Maris Verpakovskis, ihr Star von Dynamo Kiew, hatte im idealen Moment, in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit nämlich, getroffen. Andrejs Prohorenkovs, bei Macabi Tel Aviv unter Vertrag, hatte Mitte der zweiten Hälfte nur eine Idee zu viel Effet in seinem Schuss gelegt, sonst hätte es womöglich 2:0 gestanden. Und ein einziges Mal hatte Torwart Aleksandrs Kolinko vom russischen FK Rostow zu wenig Spannung in seinen Körper und erst recht hinter seine Faust gebracht – der Tscheche Marek Heinz versenkte den schlecht abgewehrten Ball kurz vor Schluss zum 1:2.
Nur eine der zwei letzten Szenen um ein paar Zentimeter in die andere Richtung verschoben, und Starkovs hätte wohl nicht mehr über seine Ängste sprechen müssen. „Die Angst, dass wir bei diesem Turnier nicht das Niveau erreichen wie in den Qualifikationsspielen“, als die Nobodys vom hinteren Ende der Ostsee im schwedischen Solna mit zehn Mann 1:0 gewonnen und im entscheidenden Play-Off-Spiel in Istanbul gegen die WM-Dritten einen 0:2-Rückstand noch umgebogen hatten zum Unentschieden.
Die 90 Minuten gegen die Europa-Auswahl mit tschechischen Pässen haben die Furcht im Kopf des lettischen Fußballchefs verjagt. Nun ist es wohl eher so, dass die Deutschen und die Holländer, die sich allesamt zur Hautevolee dieses Sports zählen, Angst vor dem Treffen mit einem vermeintlichen Sparringspartner haben müssen. „Die stehen wie eine Mauer“, erzählte Tomas Rosicky, „man verliert seine Linie, wenn du die mit zehn Mann im eigenen Strafraum siehst“ … „immer wieder fahren sie ihre überfallartigen Konter“ … „die werden auch gegen Deutschland richtig Gas geben“ … „ich spiele viel lieber gegen Holland“ … „bin froh, dass ich dieses Spiel hinter mir habe.“ Die stenografischen Ausführungen des tschechischen Jungregisseurs von Borussia Dortmund hat Trainer Karel Brückner als Verteidigungskunst „mit militärischer Disziplin“ beschrieben.
Es war nicht nur aus jener tschechischen Äußerung herauszulesen, wie froh sie waren, diese Herausforderung, die von Minute zu Minute unbequemer geworden war, bestanden zu haben. Man sah ihnen an, wie glücklich sie dieser Sieg machte. „So etwas schafft nur eine große Mannschaft“, so Rosicky. Und Pavel Nedved, Europas Fußballer des Jahres, ihr Anführer, der alle Kollegen nach dem Sieg auf dem Platz geherzt hatte, der Nedved, der meistens nie etwas sagt, der sagte an diesem Abend: „Jetzt sind wir im Turnier angekommen. Jetzt sind wir drin.“
Es gab allerdings einen Tschechen, der nicht nur Warnungen vor der unberechenbaren Fußballmacht Lettland in seine Wahlheimat schickte, sondern auch einen Tipp, wie man den Verteidigungs- und Überfallexperten vom Baltikum beikommen kann. „Du musst ein frühes Tor gegen die schießen“, glaubt Tomas Ujfalusi vom Hamburger SV, „vielleicht fällt die Mauer dann um.“ MARTIN HÄGELE