Marthon-Reste (I): Das Feld von hinten
Dabeisein beim Hamburger Marathon ist für viele alles. Aber nicht alle Läufer kommen durch. Einige verletzen sich, andere geben auf. Die taz nord hat den langen und spannenden Kampf um die Rote Laterne vom Besenwagen aus verfolgt.
Eberhard Lauschke hat es drauf. Als die Ersten im Ziel sind, ist er am Hauptbahnhof. Dass die Zuschauer "ausziehen, ausziehen" rufen, ist ihm egal. Er eiert o-beinig und mit nacktem Oberkörper seinen Weg.
Bei Applaus wirft er sich in Siegerpose. Und es wird viel applaudiert. Lauschke ist 20 Mal in Berlin Marathon gelaufen, seine Bestzeit steht bei 3:4708 Stunden, aber inzwischen ist er Altersklasse M 70 und langsamer geworden. Das letzte Mal waren es in Berlin knapp sieben Stunden. Er legt hier in Hamburg einen Schnitt von zehn Minuten pro Kilometer auf den Asphalt. Das schaffen auch geübte Wanderer - und kommen nicht aus der der Puste.
Polizeimeisterin Skroch dreht die Scheibe ihres Einsatzfahrzeuges herunter und spricht mit Lauschke. Sie sitzt ihm im Nacken, zusammen mit Dagmar Hansen von der Wettkampfleitung, die, streng nach der Marschtabelle, entscheidet, wann sie den Letzten aus dem Rennen nimmt. Jahrelang hat Ursula Junge, ihre Mutter, den Job gemacht.
Hinter dem Polizeiwagen kommen wir, der Besenwagen, hinter uns ein zweiter Besenwagen und das Fahrzeug der Stadtreinigung. Alle müssen warten bis Lauschke durch ist. Auch die Helfer an den Getränkestationen, die ihre Tische mit den gefüllten Pappbechern umkippen, das Wasser aus den Bottichen absaugen und die Bänke zusammen klappen, sobald wir vorbei sind.
Der Rest des Feldes ist weit weg. Auch Evelyn, Startnummer 927, ist schon verschwunden. Blaues Shirt, schwarze Hose, eigentlich nicht zu übersehen. Nicht viel schneller als Lauschke, aber doch ein bisschen.
Am Steuer des Besenwagens sitzt Sebastian Hulitz, 18 Jahre alt, Abiturient, neben ihm Peter Schilling, 50, Vorstand der Volksbank Eppertshausen, einem Ort zwischen Frankfurt, Hanau und Darmstadt, dahinter dessen Sohn Michel, 14, Schüler. Früher war Schilling senior der Einsatzleiter des Roten Kreuzes beim Hamburg Marathon, seit es ihn nach Eppertshausen verschlagen hat, hilft er nur noch aus.
18 Rettungswagen, fünf Notarzteinsatz-Fahrzeuge und der Läufersammeldienst, so heißt der Besenwagen offiziell, sind im Einsatz. Insgesamt über 400 Rettungskräfte des Roten Kreuzes, des Technischen Hilfswerks, der Johanniter-Unfall-Hilfe und des Malteser Hilfsdienstes. Rainer Barthel, Pressesprecher des DRK-Hamburg, zählte beim Marathon 2009 über 250 Hilfeleistungen, 50 Einsätze von Rettungswagen und eine Wiederbelebung bei Kilometer 26.
Nachdem der Einsatz beim Marathon vom Roten Kreuz zwei Jahrzehnte lang als von der Stadt bezahlte Übung abgerechnet worden war, läuft er seit 2008 als Dienstleistung, für die der Marathon-Veranstalter zahlen muss. "Es ist, was die Zahl der Kräfte anbelangt, der größte Einsatz in Hamburg", sagt Barthel.
So lange Lauschke läuft, sitzen wir ohne Einsatz im Besenwagen. Als wir uns der Binnenalster nähern, fällt Lauschke aus der Zeit. PM Skroch spricht mit ihm und erfährt, dass Lauschke kürzlich eine neue Hüfte bekommen hat, und sein Training darunter litt. Er will und darf weiter laufen, allerdings nicht mehr längs der blauen Linie auf der Straße, auf die nun wieder Autos dürfen, sondern auf dem Gehweg.
Streichquartett, Spielmannszug, Akkordeon-Solo, Bläser, Trommler, Ghetto-Blaster. Musikalisch ist die Begleitung des Hamburg-Marathons immer noch erstklassig. Aber es sind deutlich weniger Zuschauer und auch Teilnehmer, diesmal um die 20.000, als in den vergangenen Jahren gekommen.
Nun haben wir einen Mann und eine Frau vor uns. Er hat die linke Wade bandagiert, sie humpelt. Er fragt nach "kalter Salbe". Schilling schüttelt den Kopf: "Ham wir nich, aber wir können Ihnen einen Platz in unserem Fahrzeug anbieten." Die richtige Taktik, um den Kampfgeist anzustacheln. "Nie", sagt die Frau. "Kommt nicht in Frage." Als Frau Hansen den beiden mit der Marschtabelle winkt, lassen sie sich Beine machen und setzen sich vom Schwanz des Feldes ab.
Die Spaziergänger an der Außenalster sind schneller als die langsamsten Läufer. Hier sitzt der Hanseat mit Platten voller Butterkuchen in der Sonne, trinkt ein Käffchen und guckt den verrückten Marathonis zu.
Schöne Aussicht 20 steht auf Startnummer 13996. Das ist Dirk. "Mir tut nix weh", sagt der 43-Jährige beim Einsteigen in den Besenwagen, "mir ist es nur zu warm." Das war sein fünfter Marathon, zwei Mal durchgelaufen, drei Mal abgebrochen.
Da steht Evelyn. Sie kommt kaum in den Wagen. Blasen an den Fußsohlen, sie hat bei jedem Schritt dieses Wattwanderungs-Geräusch gehört. Nur dass hier kein Watt gluckst, sondern das Wasser in ihren Blasen. "Scheiße", sagt Evelyn, 47. Sie bittet darum, an der S-Bahnhaltestelle "Alte Wöhr" aussteigen zu dürfen. "Da stehen meine Eltern", sagt sie. Kein Problem, da fahren wir direkt vorbei. Aber vorher wären wir fast an Michael, Marcel, Patrice und Lieselotte vorbeigefahren. Die sitzen am Straßenrand, so etwa bei Kilometer 21, Verbände hier und da, und nähern sich humpelnd dem Besenwagen. Sehen aus wie Krieger einer verlorenen Schlacht.
Michael ist 54, bei seinem 23. Marathon zum ersten Mal ausgestiegen. Bei Kilometer sieben hat die Wade Mucken, bei Kilometer 20 "paff gemacht", erzählt er, "dann ging nix mehr. Hässliches, lautes Geräusch". Bei Marcel, 24, haben sich die Bänder im linken Knie bei Kilometer 16 gemeldet, "das wurde dann immer schlimmer". Er diagnostiziert sich eine Reizung. Doof gelaufen beim ersten Marathon.
Lieselotte ist aus Dänemark. "Der linke Fuß tut weh. Da außen", zeigt sie. Sie hat erstmal die Zähne zusammen gebissen, irgendwann half das nicht mehr. Auch bei ihr endet der erste Marathon im Besenwagen.
"Halt, halt", ruft Evelyn. Sie hat ihre Eltern gesehen. Die haben Evelyn-Transparente dabei. Sie geht vorsichtig zu ihnen. Dann rast der Besenwagen dem Feld hinterher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!