Marina Mai zählt Zuckertütchen vor der Bildungsverwaltung: Vom ersten Tag an Recht auf Schule
An eine Wäscheleine vor der Senatsverwaltung für Bildung hängt der Flüchtlingsrat am Montag 150 Zuckertüten. Jede Tüte stehe für zehn Kinder, denen in Berlin das Recht auf Bildung verwehrt wird, sagt Walid Chahrour vom Arbeitskreis Junge Flüchtlinge des Flüchtlingsrats.
Im Dezember räumte die Senatsverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen ein, dass in der Stadt 1.300 geflüchtete Kinder aus allen Bezirken auf einen Schulplatz warten. Sie können nicht zur Schule gehen, weil Lehrer und Schulräume fehlen.
Der Flüchtlingsrat schätzt, dass weitere 200 Kinder und Jugendliche warten, weil sie in ihren Unterkünften gar nicht zur Schule angemeldet werden. Das betrifft etwa Schulpflichtige aus dem Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel, weil hier keine Schulanmeldungen vorgenommen werden. Das Recht auf Bildung ist im Grundgesetz sowie in der UN-Kinderrechtskonvention verankert. In Berlin besteht das Recht auf einen Schulbesuch laut Gesetz vom ersten Tag des Aufenthalts an.
Sabine Speiser vom Arbeitskreis junge Flüchtlinge des Flüchtlingsrats beschreibt ein „Level an Frustration und Antriebsschwäche“ unter jugendlichen Flüchtlingen, das den von 2015/16 übersteige, als Schulplätze ebenfalls fehlten. Das liege daran, dass die Jugendlichen heute noch weniger eine Perspektive sehen. Chahrour sagt dazu: „Wenn der Senat im Zusammenhang mit Silvester über Integrations- und Partizipationsverweigerer spricht, dann soll er sich zuerst einmal an die eigene Nase fassen.“
Ein besonderes Problem besteht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, also für Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Deutschland kommen: Sie warten sechs bis acht Wochen in pädagogisch nicht oder unzureichend betreuten Heimen auf ihr Clearinggespräch. In diesem Gespräch wird ihr Alter festgestellt. Erst danach erfolge die Anmeldung zur Schule. Laut Nora Brezger vom Flüchtlingsrat betrifft diese unnütze Wartezeit selbst Ukrainer, die mit Geburtsurkunde nach Deutschland kommen, sodass das Alter eigentlich feststehen sollte. Falls sie während dieser Zeit überhaupt Deutschkurse belegen, dann seien sie auf solche angewiesen, die von Ehrenamtlichen angeboten werden. „Wir vermissen von der Senatsverwaltung ein Konzept, wie sie Lehrkräfte anwerben und die Raumsuche gestalten will“, sagt Brezger. Man könne vorhandene Schulräume auch nachmittags nutzen.
Die Senatsverwaltung für Bildung schickte keinen Vertreter zu der Kundgebung, weder Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) noch die Staatssekretäre. Walid Chahrour: „Wir haben jedem eine Zuckertüte da gelassen, damit sie an ihre Hausaufgaben erinnert werden.“
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