■ Marcel Reich-Ranickis Interview im letzten „Spiegel“: Die verfluchten guten Gründe
Es ist bedrückend, wenn ein Mann, der viel weiß, der Schlimmes erlebt hat und der die Kunst liebt, in einer wichtigen Situation heute anfängt, eine Phrase, eine Beschwichtigung nach der anderen zu äußern. Hauptmann des Geheimdienstes? „Hauptmann hatte eher einen humoristischen Anstrich. Es war nur ein Aktenvermerk. Denn eine Uniform trug ich natürlich nicht.“ Jemandem geschadet? „Es waren eher harmlose Berichte ... Nein, ich bedauere nicht, was ich getan habe. Meine ganze Tätigkeit hat niemandem geschadet. Ich habe so und nicht anders gehandelt, weil ich damals an den Kommunismus geglaubt habe.“ Warum bis heute geschwiegen? „Ich mußte eine Erklärung unterzeichnen – das war so üblich –, niemals ein Wort über Dinge zu sagen, die mit dem Geheimdienst zusammenhingen. Ich habe diese Erklärung sehr ernst genommen, was ich nicht bedaure: Ich hielt es für ein Gebot der Loyalität, für eine Anstandspflicht, nichts über diese Angelegenheiten zu sagen... Ich wollte auf keinen Fall in einen Konflikt mit dem polnischen Staat geraten, ich wollte loyal sein... Ich war nicht bereit zu liefern, was die Redakteure in Frankfurt von mir wollten ... Man hoffte, daß ich ,auspacken‘, daß ich also Enthüllungsstorys über das kommunistische Polen schreiben werde ... Und bis heute gibt es nichts von mir gegen Polen – keinen Artikel, geschweige denn ein Buch.“
Geheimdienst eine kriminelle Organisation? „Diese Bezeichnung trifft alles in allem zu ... Ob auch die Arbeit des Departments, das sich mit dem Ausland beschäftigte, kriminell war, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß aber bestimmt, daß in England in der Zeit, in der ich dort war, vom Geheimdienst des Sicherheitsministeriums nichts getan wurde, was sich dem Kriminellen auch nur nähern würde.“ Decknamen? „Ein erst im Entstehen begriffener Geheimdienst liebt natürlich das konspirative Spiel mit den Decknamen. Ich hatte mehrere in zwei Gruppen. Adam, Albert und Albin sowie Lessing, Büchner und Heine. Und Fontane.“ Wen bespitzelt? Wie viele Agenten geführt? „Ich fürchte, Sie wissen nicht, was das Wort Agent bedeutet ... Ich bekam Informationsmaterial von zehn bis zwölf Leuten. Sie informierten über die politischen Strömungen innerhalb der polnischen Emigration in England ... über politisch interessante Personen.“ Warum erst jetzt geredet? „Eine polnische Instanz hat vor einigen Tagen angeblich unzugängliche, ,entliehene‘ Materialien über den polnischen Geheimdienst veröffentlicht, unter anderem meinen ,Dienstablauf‘. Nachdem die polnischen Behörden das zugelassen oder ermöglicht haben, ist meine Verpflichtungserklärung von Januar 1950 null und nichtig.“
Nun haben wir Juni 1994. Viele MfS-Offiziere, darunter üble Häscher, höre ich heute ähnlich argumentieren, wenn man den wichtigen historischen und persönlichen Kontext ein wenig variiert. Immer wieder werden auch der Antifaschismus, das Schicksal von Familienangehörigen und die deutsche Geschichte erwähnt. Es gibt immer Gründe, loyal zu sein, auf keinen Fall einen Konflikt mit dem Staat zu riskieren, nicht ,auszupacken‘ in der Fremde über Menschenrechtsverletzungen zu Hause, über mögliche eigene Anteile dabei. Niemandem geschadet, nur harmlose Berichte? Woher will man das wissen, wenn es Jahre so ging, wenn man Hauptmann war und ein Geheimdienst kooperierte mit Stalins Häschern? Und die Decknamen ... Wir dachten voreilig, IM „Hölderlin“ wäre es gewesen als Gipfel konspirativer Phantasie und kleiner Verabredungen in Autos und Hinterzimmern. Nun kommen noch „Lessing“, „Büchner“, „Heine“ und „Fontane“ hinzu. Ein westdeutscher Redakteur des Feuilletons fragte mich neulich etwas spitz, wo denn nun die neuen Enthüllungen der „inoffiziellen Literaturgeschichte“ bleiben würden. Es ging ihm nicht schnell genug, selbst wollte er offenbar nicht ins Archiv gehen, das ist dann staubig und dreckig, man sitzt lieber in Pressehäusern und guten Stellungen. Nun gibt es etwas Neues. Oder doch nicht? Alles schon wieder okay und erklärt und verklickert mit Witz und Verve? Vielleicht. Die Alten, auch die wir mögen, reden was und wann sie wollen. Sie haben Heft, Buch und Urteil fest in der Hand, in ihrem Kopf. Das kann enorm sein und brillant im Ton der Gewißheit bei so vielen Zweifeln und Fragen heute. Aber traurig ist es auch, bitter und hart. Und klein könnte es werden, wenn die reden und sich erinnern oder Akteneinsicht erhalten, über die berichtet wurde, die „politisch-operativ interessanten Personen“ ...
Wenn etwas vorbei ist, das kann Todesnähe, Lager, Knast oder Einmauerung sein, muß man offenbar aufpassen. Die verfluchten guten Gründe, der verfluchte Augenblick der moralischen Überlegenheit ... Jürgen Fuchs
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