Marat/Sade in Dresden: Es geht immer noch schlimmer
"Was würdet ihr denn tun, wenn heute Revolution wäre?": Die Regisseurin Friederike Heller inszeniert Peter Weiss' modernen Klassiker "Marat/Sade".
Die Welt ist schlecht - und es kann nur schlimmer werden. Der Marquis de Sade weiß schon lange, dass der Mensch doch immer nur seine eigenen Bedürfnisse befriedigen will. Und in Friederike Hellers Inszenierung in Dresden kann auch der Revolutionsführer Marat nur noch resignieren angesichts der modernen Welt: Revolution in der Wohlstandsgesellschaft? Wozu? Hier beruhigt man sein Gewissen, indem man den Erdbeerdaiquiri als Fair-Trade-Produkt schlürft, sagt Marat - sagt der Irre, der in der Psychiatrie sitzt und Marat spielt, sagt der Schauspieler, der diesen Irren spielt.
Eine kurze Einordnung für alle Nach-68er: Peter Weiss hat dieses weltberühmte, heute etwas in Vergessenheit geratene Drama 1964 geschrieben: "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade". Der im Irrenhaus internierte Marquis de Sade führt im Jahr 1808 ein Stück über den Tod des Marat auf und baut darin ein fiktionales Gespräch zwischen sich und dem Revolutionär ein. "Ich glaube nur an mich selbst", sagt de Sade; "ich glaube nur an die Sache, die du verrätst", sagt Marat.
Friederike Heller fügt diesem Denkspiel eine weitere Ebene hinzu - sie lässt die Schauspieler nach Aktualisierungen in Zeiten der Selbstverwirklichung suchen. Soziale Revolution oder Individualismus inklusive sexueller Befreiung - diese Antithese, die das Stück in den 60er Jahren zum Stück der Stunde machte, kann die Regisseurin offenbar nicht mehr ernst nehmen. Schon das Erscheinungsbild der Hauptfiguren zeigt das: Da zerrt sich Torsten Ranft als de Sade einen gigantischen lila Schlüpfer bis über den Bauchnabel, auf dem lichtem Greisenhaar eine närrische Krone. Das wirkt weniger pathologisch als lächerlich.
Wenn die Mitpatientinnen nicht so spielen, wie er will, reißt er sich wutentbrannt die Perücke vom Kopf und versohlt ihnen den Hintern. Ranft gibt diesen de Sade als ekligen, zynischen Lustmolch. Aber wenigstens hat er Temperament. Anders als der Marat von Thomas Eisen, der als miesepetriger Intellektueller zu allen Angriffen de Sades den Mund verzieht, als hätte er nie ein Leben außerhalb der Wanne geführt, in der er den ganzen Abend seinen Juckreiz zu lindern versucht. Ständig kratzt er sich am Hintern - ein Charismatiker sieht anders aus.
Eine Irrenanstalt auch. Gemütlich ist die Badehalle von Sabine Kohlstedt nicht, aber wie sich die Patienten in flauschigen Bademänteln bewegen, wie sie Yoga üben und sich die Beine rasieren - das entspricht mehr einer Wellnessklinik als jenem kalten Irrenhaus, in das Peter Brook das Stück 1966 einsperrte.
Keine Antipoden mehr
Marat und de Sade - sie mögen als Antipoden tatsächlich ausgedient haben. Heller sucht deshalb mit ihren sechs Schauspielern und dem Musiker Thomas Leboeg nach einer halbwegs glaubwürdigen Übertragung ins Heute - oft allerdings nur mit oberflächlichen Szeneneinfällen. Statt de Sade auszupeitschen, legt die Corday ihm mit einem Gartenschlauch einen Einlauf - zu de Sade fallen einem eben leicht Spielereien mit Körperöffnungen ein. Marat beißt seinem Gummientchen den Hals ab und schmiert sich mit dessen Blut ein. Wenn aber de Sade provokant fragt: "Was würdet ihr denn tun, wenn heute Revolution wäre?" und als Antwort nur "Tempolimit auf Autobahnen" kommt, dann trifft Hellers Suche einen Nerv.
Obwohl dieser Text eigentlich ein fulminantes Theaterspektakel nahe legt, belässt Heller es bei kleiner Besetzung - am stärksten setzt sie auf die Lieder des Chores. Ironisch und gewitzt, wie Heller die Schauspieler dabei zu Schlagern und Elektropop singen lässt, die Szenen zwischen der Mörderin Corday und ihrem Geliebten Duperret wirken wie aus einem Disney-Musical. Wer den Text nicht kennt, wird allerdings Verständnisschwierigkeiten haben.
Am Ende springt die Corday nackt zu Marat in die Wanne, de Sade lässt nicht lange auf sich warten - und beiden schneidet sie die Kehle durch. Jetzt - Frauen an die Macht! - wird sie als Napoléon gekrönt, eine Närrin im Bademantel, eine Gurke in der Hand. Auch nicht besser, dieser Stand der Dinge. Aber der Marquis wusste ja: Es geht immer noch schlimmer.
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