: Mann mit Möglichkeiten
Wie aus einem so kontrollierten und bissigen Melancholiker wie dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares ein Romantiker wurde, der seine narzisstische Gekränktheit nur mit Mühe verbergen kann: Die Neuedition von Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“
VON JÖRG SUNDERMEIER
Fernando Pessoa, der wohl wichtigste portugiesische Autor des vergangenen Jahrhunderts, war nicht ein Autor, sondern gleich mehrere. Er umgab sich mit diversen Figuren, die er sich erdacht oder präziser: erträumt hatte: Alexander Search, ein englischsprachiger Erzähler, Frederico Reis, Kritiker und Verwandter des Dichters Ricardo Reis, der Philosoph António Mora, der kreuzworträtselbesessene A. A. Crosse, daneben noch viele andere. Die bedeutendsten vier waren: Alberto Caeiro, von dem Pessoa behauptete, in ihm seinen Meister gefunden zu haben, der formal strenge Ricardo Reis, der Futurist Álvaro de Campos und eben Fernando Pessoa selbst. All diese Autoren, die sich einen Körper teilten, schufen eigene Werke, zum Teil in einem sehr eigenen Stil, fochten ästhetische Debatten untereinander aus und schrieben alle mit derselben Hand. So auch Bernardo Soares, von dem Pessoa sagte, dass jener sich von ihm, Pessoa, in den Ansichten und Gefühlen unterschiede, nicht aber in der Art, in der er sie äußere. „Er ist eine andere Persönlichkeit, der ich durch meinen mir eigenen natürlichen Stil Ausdruck verleihe, dabei unterscheidet uns einzig der unvermeidbar besondere Ton, der sich zwangsläufig aus der Besonderheit seiner Emotionen ergibt.“
Der Fernando Pessoa, den Zeitgenossen bis 1934 in Lissabon auf der Straße trafen, arbeitete in Handelskontoren, lebte zurückgezogen, publizierte nur weniges, pflegte kaum Liebschaften und trank. Diese äußerlichen Umstände verleiten dazu, Pessoa mit seinem „Halbheteronym“, dem Hilfsbuchhalter Soares, zu verwechseln. So auch Inés Koebel, die Übersetzerin des „Buches der Unruhe“, das soeben – nach einer umfangreichen Auswahl vor 18 Jahren – als etwas fragwürdige „definitive Ausgabe“ doppelt so dick erschienen ist. Inés Koebel sucht im „Buch der Unruhe“, das Soares’ Hauptwerk ist, nach Pessoa und korrigiert ihn dort, wo er nicht Pessoa sein kann – schreibt Soares etwa, seine Mutter „starb, als ich ein Jahr alt war“, merkt sie an: „In Wirklichkeit war Pessoa siebenunddreißig Jahre alt, als seine Mutter starb.“ Dieses „in Wirklichkeit“ lässt befürchten, dass die Übersetzung von einem Missverständnis geprägt ist: Die „Autobiographie ohne Ereignisse“, die den umfangreichsten Teil des Buches darstellt, scheint der Übersetzerin als die Autobiografie des „wahren“ Pessoa zu gelten.
Ähnlich wie die Übersetzerin verhält sich der portugiesische Herausgeber Richard Zenith zu diesem Buchmanuskript, zu dem es keinen Bauplan und keine genauen Anweisungen gibt, das nur aus einem Haufen Zettel im Nachlass besteht – Zenith ordnet Texte und Textfragmente thematisch, er stellt Textblöcke mit poetischen Erwägungen oder theologischen Fragen zusammen, egal ob sie von 1916 datieren oder von 1930.
Den deutschen, des Portugiesischen nicht mächtigen Lesern, die bislang mit einer Übersetzung und eigenen Auswahl des verstorbenen Georg Rudolf Lind vertraut waren, wird diese „definitive Ausgabe“ daher zunächst verstören – das „Buch der Unruhe“ ist anstrengender geworden. Zum einen weil es eine Unzahl von gedanklichen Wiederholungen gibt, zum anderen weil man den kontrollierten und bissigen Melancholiker, als den man Soares bislang kannte, kaum wiederfindet.
Nun treffen wir auf einen Romantiker, der seine narzisstische Gekränktheit kaum verbergen kann. Soares bewegt sich da, wo er über seine Isolation redet, stets zwischen Selbstmitleid und Arroganz. Wörter wie „Träume“, „Seele“, „Einsamkeit“ und „Gefühl“ spielen eine zentrale Rolle, und oft kann er nicht an sich halten: „Ich leide, ob verdientermaßen, weiß ich nicht. (Ein gejagtes Reh.) Ich bin kein Pessimist, ich bin traurig.“ Andernorts heißt es: „Das verwerflichste aller Bedürfnisse: die vertrauliche Mitteilung, das Bekenntnis. Das Bedürfnis der Seele, sich zu äußern.“
In dem kleineren zweiten Teil des Buches finden sich Texte, die Pessoa offensichtlich andernorts zu publizieren gedachte. Sie sind allesamt mehr als Notizen – größere Fragmente, die sichtlich von einem reifen Autor stammen, darunter die „Ratschläge für unglücklich verheiratete Frauen“ oder „Trauermarsch für Ludwig II., König von Bayern“. Im Anhang gibt es dann noch Fragmente zu einem anderen Bauvorhaben mit dem gleichen Material – das wenig bekannte Pessoa’sche Heteronym Vincente Guedes sollte demnach ebenfalls einmal der Autor des „Buches der Unruhe“ werden.
Wir haben es bei diesem Buch mit einem Material zu tun, das in einer Weise geordnet ist, die welcher Pessoa’schen Autorenfigur auch immer vielleicht gar nicht gefiele. Den Zustand des Materials offen zu legen ist ein großes Verdienst der Neuausgabe. Festzuhalten bleibt, dass das „Buch der Unruhe“ in der Form, in der man es lesen kann, formal weit hinter anderen Werken dieser Ein-Mann-Autorenvielheit zurücksteht. Merkwürdigerweise aber ist dieses Buch das berühmteste des Lyrikers, Dramatikers und Kritikers. Es ist zu bezweifeln, dass Pessoa/Soares diesen Ruhm gerne zugesprochen bekäme. Dass das Buch dennoch ein solcher Erfolg ist, liegt wohl daran, dass selbst in diesem Material noch vorscheint, was das „Buch der Unruhe“ hätte werden können, wenn es tatsächlich fertig gestellt worden wäre.
Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel. Ammann Verlag, Zürich 2003, 576 Seiten, 49,90 €