: Mann für Momente
Nach dem 1:0 gegen Russland ist allein Spaniens Matchwinner Valerón der Meinung seines Trainers, dass Valerón weiter auf die Reservebank gehört
AUS FARO RONALD RENG
Juan Carlos Valerón weiß, dass die unmöglichsten Sachen möglich sind. Er spricht oft zu jemandem, der über einen See laufen und Wasser in Wein verwandeln konnte. Also erhob sich Juan Carlos Valerón in der 59. Spielminute von der Ersatzbank, lief aufs Fußballfeld, verwandelte noch in derselben Minute mit einem Tor ein überlegenes Spiel der spanischen Nationalelf in eine siegreiche Partie – und sah keinen Grund, darin ein Wunder zu erkennen. Andere haben schließlich ein Meer geteilt, um das Volk Israel ins gelobte Land zu führen. Die Bibel nennt Valerón „mein Lieblingsbuch“, der christliche Glaube ist seine Kraft; es ist ihm peinlich, wenn er wegen seiner profanen Taten als Fußballprofi als Messias gefeiert wird.
So stand er nach dem 1:0-Sieg Spaniens in deren ersten EM-Vorrundenspiel gegen Russland vor dem Mannschaftsbus am Estádio Algarve in Faro, lächelte freundlich und richtete jedes Mal, wenn ihn wieder ein Fan oder Reporter für sein Tor pries, schnell die Augen auf den Boden. Es war ein flottes Spiel, das die Ahnung bestätigte, Spanien komme mit einer exzellent organisierten, vor Spielfreude strotzenden Elf nach Portugal. Die Außenstürmer Vicente Rodríguez und Joseba Etxeberria hatten mit ihren Dribblings die überforderten Russen permanent ins Durcheinander gestürzt. Doch am Tag danach hat Spanien wenig Zeit für solche Details. Es widmet sich wieder einmal seiner Obsession: der Raúl-und Valerón-Debatte. Eine Fußballnation, die dem technisch sauberen Spiel huldigt, will seine elegantesten Spieler alle zusammen in einer Elf sehen. In der restlichen halben Stunde nach seinem Sofort-Tor hatte Valerón Weltbewegendes zwar nicht vorgeführt; der eine Moment jedoch, der eine Blitz des Gestalters von Deportivo La Coruña genügte, die Kampagne für seinen Platz in der Startelf erneut zu entflammen.
Solche Diskussionen, wer mit wem soll und wer nicht mit wem kann, gehören zum Fußball wie legendäre Tore. Deutschland hatte in den 70er-Jahren seine Netzer-Overath-Debatte. Noch heute reden die Leute darüber, dass es doch eigentlich hätte funktionieren müssen mit Günter Netzer und Wolfgang Overath in einer Elf, auch wenn sie wissen, dass die beiden Spielmacher zusammen so tolle Resultate wie ein 0:0 in Albanien erstritten. Noch heute echauffieren sich Brasilianer, wie Trainer Carlos Parreira bei der WM 1994 zwei defensive Mittelfeldspieler aufstellen konnte – obwohl er doch mit Carlos Dunga und Mauro Silva Weltmeister wurde.
In Spanien hat Trainer Iñaki Sáez vor Monaten schon vernünftig dargelegt, warum er Real Madrids Raúl und Valerón nicht gemeinsam ranlassen wird, zwei Akteure, die sich beide am liebsten aus dem Schattenland zwischen gegnerischer Abwehr und Mittelfeld heranschleichen und also auf den Füßen stehen würden. „Ich bin total dagegen, und nicht aus Sturheit“, sagt Sáez, „Valerón hat die Eleganz eines Zidane, aber er ist nicht mit einem robusten Körper gesegnet. Er ist ein Spieler für Momente.“ Die Leute wollen es einfach nicht hören. „Nimm einen Verteidiger raus, einen defensiven Mittelfeldmann oder ein Außenläufer – mach irgendwas, um sie beide unterzubringen“, flehte Spaniens größtes Sportblatt Marca, und in einer Umfrage wollten 83 Prozent der Spanier Valerón in der Startelf sehen – und das war noch vor dem Russland-Spiel.
Es ist beeindruckend, wie unbeeindruckt Sáez angesichts solcher Massenkundgebungen an seinen Überzeugungen festhält. Er hat eine fixe erste Elf geschaffen, die er nicht wegen kleiner Formschwankungen oder öffentlichem Druck ändert. Dass so alle Welt samt Gegner die Aufstellung schon Tage vorher weiß, ist ihm egal. „Wenn ein Team versucht, seine Taktik geheim zu halten oder wegen des Gegners zu ändern, heißt das nur, dass sie nicht auf sich selbst vertraut.“ Selbst Spaniens Einwechslungen sind vorhersehbar. Sáez hat eine Elf mit 14 Spielern geschaffen. Auch Valerón, Fernando Torres und Xabi Alonso sind gesetzt – als Teilzeitarbeiter.
Der Samstag ging schon in den Sonntag über, als Valerón noch immer vor dem Bus stand. Er mochte niemanden versetzen, auch wenn es hieß, manche Fragen 30-mal zu beantworten. Einen großen Teil seines Gehalts spendet er für bedürftige Kinder in seiner Heimat auf Gran Canaria; er ist ein bis zur Selbstverleugnung bescheidener Sportler. „Hoffen wir, dass jetzt nicht wieder die Diskussion ausbricht: Valerón muss spielen“, piepste er, die Stimme so dünn wie seine Beine, „das einzige Wichtige ist doch die Mannschaft.“ Valerón, so schien es, war wieder einmal der einzige Spanier, der Trainer Sáez zustimmte, dass Valerón auch im nächsten Spiel auf der Ersatzbank sitzen soll.