Manifest für den Kompostismus

Überleben werden wir nicht allein, sondern nur im „Mit-Werden“ mit anderen Arten, schreibt die Biologin und Feministin Donna Haraway. Jolanda Morales’Performance „Nerven“ greift diesen Gedanken auf und zeigt Entwürfe neuer Körper zwischen Mensch und Natur

In der Phase des Übergangs: Nach der ökologischen Katastrophe finden die Überlebenden nur noch verblassende Erinnerungen Foto: Steffen Baraniak

Von Katrin Ullmann

Um auf der Erde überleben zu können, brauchen wir andere Formen der Verwandtschaft, und zwar jenseits der humanbiologischen. Das fordert die US-amerikanische Biologin und Feministin Donna Haraway in ihrem Buch „Unruhig bleiben“. Ihrer Ansicht nach werden Menschen nicht als Individuen überleben, sondern nur im „Mit-Werden“ mit anderen Arten: als sogenannte Symbionten. Am Ende ihrer Publikation stehen „Camilles Geschichten“, eine utopische Erzählung, die über fünf Generationen hinweg, von 2025 bis 2425, dem Lebensweg von Camille – ohne Geschlecht, halb Menschenkind, halb Schmetterling – und ihren Nachfahren folgt, den „Kindern der Kompostisten“. Dann wird sich die Erdbevölkerung reduziert haben, werden mehr und mehr Menschen die Gene von gefährdeten Tierarten transplantiert bekommen haben und die so entstandenen Symbionten werden bedrohte Gene vor dem Aussterben bewahren.

Haraways 2018 erschienenes Buch, eine tatsächlich unruhige Mischung aus Science-Fiction und Programmschrift, bildet die Grundlage für die jüngste Arbeit der Choreografin Yolanda Morales. „Nerven“ heißt das Stück und wird am Donnerstagabend im „Lab“ des Hamburger Lichthof-Theaters als Live-Stream-Premiere stattfinden. Das Zeitalter des Anthropozän ist dort dann Vergangenheit, die prophezeite ökologische Krise längst eingetreten. Nur wenige Menschen haben diese Katastrophe überlebt. Diese erinnern sich noch an alte, langsam verblassende Zeichen und an Geschichten von Trauer und Verlust, sind aber nun in eine Phase des Übergangs und der Verwandlung eingetreten.

Auf der Bühne schlüpfen die vier Tän­ze­r*in­nen Alicia Ocadiz, Ida Hørlyck, Emilie Lund und Joel Paulin in Körper, deren menschliche DNA verwandt sein könnte mit einem Wolf, einem Insekt oder auch einem Pilzgeflecht. Mittels ausdrucksvoller, archaischer Rituale schaffen sie bald eine andere Form der Gemeinschaft. Die sich transformierenden Körper haben eine neue Fähigkeit entwickelt: Sie können ein nervöses, hoch sensibles, emphatisches System herstellen, in dem jede Empfindung, jede Schwingung mit allen anderen im Raum geteilt wird.

„Wir haben persönliche ‚Camille‘-Geschichten aus unseren Erinnerungen geschrieben, die wir danach verkörpert haben“, erzählt Morales. „Es war eine lange und tiefe Reise durch das Fabulieren, um unsere Verwandtschaft mit anderen Spezies zu (er)finden“, beschreibt die mexikanische Choreografin den gemeinsamen Arbeitsprozess. „Diese Wesen sind keine Roboter oder Cyborgs, keine Su­per­hel­d*in­nen mit außergewöhnlichen Kräften, stattdessen entwickeln sie sich zu ‚Krittern‘, die an ihren alten Wunden herumkauen, bis sie auf ihre tierische Natur reagieren.“

Zwischen Wurzeln und Schmetterlingsflügeln

Dass sich in Haraways Schreiben die Grenzen zwischen Mensch (im Ursprung ja Natur) und der Natur selbst mehr und und mehr auflösen, dass sie verschwimmen, gar verschwinden, das findet Morales auch in ihrer eigenen Herkunft, der Maya-Community, wieder, in der die Verbindung zur Natur eine zentrale Rolle spielt. „Das hat mich zu Haraways Werk hingezogen“, sagt sie und ergänzt: „Vielleicht trifft das auch auf mich, als Maya-stämmig, zu, wenn Haraway schreibt: ,Ich bin eine Kompostistin und keine Posthumanistin.‘“

Lea Burkhalter hat für die Kompostistinnen den entsprechenden Raum entworfen: Der Boden besteht aus farbigen Flächen, deren kunstvolle Muster die Tier- und Pflanzenwelt zitieren. Hier taucht der vergrößerte Ausschnitt eines Schmetterlingsflügel auf, dort die grafische Struktur einer Reptilhaut, da die Nahaufnahme einer Rinde – oder ist es die eines Wurzelgeflechts? Immer wieder bedeckt Humuserde die freien Flächen und zahlreiche Glühbirnen wickeln den Raum in ein ortloses Licht.

Christopher Schramm kreierte für das Stück einen stetigen, beunruhigenden Sound: mal schnalzend, dröhnend, zwitschernd oder irdisch summend, aber auch mal jäh durchbrochen von einem unheimlichen, fernen Vogelruf.

Dicht, kreisförmig sollten die Zu­schaue­r*in­nen eigentlich nah dran und um die Per­for­me­r*in­nen herum sitzen. Jetzt kreisen erst mal die Kameras, schaffen eigene Perspektiven und visuelle Atmosphären.

Dass Morales, Jahrgang 1984, intensive utopische und dystopische Szenarien erschaffen kann, hat sie 2019 in Hamburg auf K3 mit ihrer Produktion „2666“ unter Beweis gestellt. Darin bezog sie sich – neben dem brutalen Feminizid, der in Roberto Bolaños gleichnamigen Roman verhandelt wird – auf die Frage, wie man sowohl fiktiv als auch dokumentarisch arbeiten kann. Und erstellte ein Szenario, wie selbstbestimmt die Zukunft (vielleicht die des Jahres 2666) der Frauen aussehen wird, wie sehr diese sich schützen müssen, wie sehr sie sich abschotten und mechanisieren müssen.

An alten Wunden herumkauen: Morales’ neue Körper reagieren auf ihre tierische Natur Foto: Steffen Baraniak

Videospiele an dunklen Straßenecken

Das Setting ihrer hoch energetischen Choreografie erinnerte an eine Mischung aus ästhetischem Videospiel und dunkler Straßenecke. Kraftvoll und wie automatisiert agierten die Performerinnen darin auf einer Art Laufsteg, während das auf seitlichen Tribünen platzierte Publikum zum hilflosen Zeugen wurde.

Tatsächlich kann man „Nerven“ als logische Fortsetzung dieser Arbeit verstehen. Schließlich versteht Morales die Bearbeitung utopischer Szenarien als Möglichkeit, ihren künstlerischen Diskurs kritisch zu positionieren. Die Entwürfe von fernen, neuen Körpern, deren Konturen, Fähigkeiten, Wahrnehmungen und Kommunikationsformen sich entlang aktueller sozialer und politischer Themen transformiert haben, sind wichtige Impulse für ihren kreativen Prozess.

Auf der Bühne finde dann eine Vermischung der Zeitebenen statt, sagt Morales: „Vielleicht ist auf der Bühne das Vergangene gegenwärtig und das Kommende auch.“ Und so gesehen ist eine Utopie, etwa die einer zukünftigen artenumspannenden Weltgemeinschaft, dann gar nicht mehr weit weg.

„Nerven“: Live-Stream-Premiere am Do, 11. 3., 20.15 Uhr, Tickets auf www.lichthof-theater.de; weitere Termine: Fr, 12. 3., Sa, 13. 3., 20.15 Uhr und So, 14.3. , 18 Uhr