Mangel an Landärzten: Wenn die Helfer Hilfe brauchen
Philipp Rösler fordert mehr Ärzte für ländliche Gebiete - doch dort ist der Glaube an zentrale Lösungen längst geschwunden. Zum Beispiel im Niederen Fläming.
Es gibt diese zwei Daten, die das Leben für die Bewohner im Niederen Fläming verändert haben. Alles haben sie schwieriger gemacht, hier in Brandenburg, im Altkreis Jüterbog. Das erste fällt in das Jahr 1989, in die Wendezeit. Das andere in den Oktober 2009, 20 Jahre später.
Im Jahr 1989 endete die Arbeitszeit von Gemeindeschwester Elisabeth Görlich, ihre Praxis wurde geschlossen. Für die guten Seelen aus der DDR-Zeit war im neuen, kapitalistischen System kein Platz mehr, und mit der Institution ging auch der Anlaufpunkt für die gesundheitliche Versorgung der BewohnerInnen dahin. Immerhin: Eine Handvoll Ärzte gab es damals noch. Der letzte von ihnen, es ist der zweite große Einschnitt für die Gemeinde, geht 2009 in Rente. Es ist Kinderarzt Dr. Popp. "Ein Denkmal müsste man ihm setzen, dem Dr. Popp", sagt der Bürgermeister Ernst Werner "er war Kinderarzt, Mütterberater und Jugendamt in einem."
Seit Dr. Popp sich nicht mehr um die 23 Dörfer des Niedereren Fläming kümmert, praktiziert in der Gemeinde kein einziger Kinder- oder Allgemeinarzt mehr. Fast die gesamte medizinische Versorgung wird im nahe gelegenen Jüterbog geleistet, aus den abgelegensten der Dörfer müssen die insgesamt knapp 4.000 Einwohner bis zu 30 Kilometer weit fahren - um dort stundenlange Wartezeiten in Kauf zu nehmen. 3.600 Stellen für Ärzte könnten bundesweit sofort besetzt werden, wenn sich nur die passenden Mediziner finden würden.
Und in keinem anderen Bundesland gibt es so wenig niedergelassene Ärzte pro Einwohner wie in Brandenburg. Wenn Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) von Landarztmangel spricht, dann meint er Regionen wie den Altkreis Jüterbog mit den kleinen, weit verstreuten Dörfern des Niederen Fläming, mit ihren Seen und weiten Feldern, alten Häusern und malerischen Bauernhöfen.
In der Dorfstraße 1, Ortsteil Werbig, sitzt Elisabeth Görlich in ihrem Wohnzimmer. 81 Jahre ist die ehemalige Gemeindeschwester heute, früher hat die DDR-Zeitung Märkische Volksstimme sie in einem Artikel "Mittlerin zwischen Politik und Bürgern" genannt. Der Körper will nicht mehr so wie früher, ihr Bein legt sie die meiste Zeit auf einen Hocker, seit sie sich vor einigen Wochen den Knöchel gebrochen hat.
Ihr Haus ist für die Gemeinde nicht weniger als ein historischer Ort. Eine Etage unter ihrer Wohnung war früher auch ihre Gemeindeschwesternpraxis. Hier hat sie fast den ganzen Ort mit Medikamenten versorgt oder einen ersten Blick auf Verletzungen geworfen. "Meistens konnte man ja doch schnell helfen", sagt sie.
Es ist viele Jahre her, und in der Zwischenzeit ist Görlich selbst auf Hilfe angewiesen; Hilfe, die es in ihrer Gemeinde nicht mehr gibt. Denn seit sie sich vor einigen Wochen verletzt hat, muss die Frau, die jahrelang den Ort versorgte, selber mühsam ihre Arztbesuche in Jüterbog organisieren. Denn weder sie noch ihr Mann können noch Auto fahren. "Schlimm, wenn man jemanden braucht, der die Stunden im Wartezimmer mit absitzen muss", sagt sie. "Eigentlich bin ich ja noch ganz fit, wenn der Fuß nur in Ordnung ist".
Es sind die Worte einer Frau, die nie jemanden gebraucht hat, die immer selbst geholfen hat. Und bei der nun, im Alter und auf dem Land, die wichtigste Versorgung des Sozialstaats nicht mehr funktioniert: das Gesundheitssystem. Es ist der demografische Wandel, der den Ärztemangel auf dem Land auf doppelte Weise zum Problem werden lässt. Denn gerade abseits der Städte wird die Bevölkerung immer älter - und damit immer weniger mobil.
Und auch die wenigen verbliebenen Ärzte werden immer älter. Gerade sechs Hausärzte gibt es in ganz Brandenburg, die jünger sind als 35 Jahre. Aber fast ein Viertel sind jenseits der 60, viele älter als 65. Besonders in Ostdeutschland, wo die Alterung der Bevölkerung noch augenfälliger ist als in anderen Regionen, werden sich die Probleme in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Kilometerweit wird es dann keine Ärzte mehr geben.
Aber kann so ein Problem mit einer Landarztquote gelöst werden, wie von Philipp Rösler vorgeschlagen? Mit einer Zulassung für ein Medizinstudium auch mit schlechteren Noten, wenn man sich nur zu einer Arbeit auf dem Land verpflichtet?
"Das hört sich so an, als ob die, die nicht so gut sind, aufs Land sollen", sagt Görlich. Nein, sie glaube nicht, dass es funktioniert, sagt sie und lacht wie jemand, der grundsätzlich nicht mehr daran glaubt, dass etwas funktioniert, was in der Politik, was in Berlin, fabriziert wird. "Landarzt muss man sein, da gibt es keinen Feierabend."
"Das ganze System muss überdacht werden", sagt Bürgermeister Ernst Werner. Werner ist seit 20 Jahren parteiloser Bürgermeister der Stadt, von den 4.000 BürgerInnen der Gemeinde duzt er 3.000, wie er sagt, "und den Rest kenne ich nicht". Er wohnt nur ein paar Häuser weiter in der Dorfstraße, in der Nummer 12. Das Haus von Schwester Elisabeth kennt er seit vielen Jahren, wie sie ist auch Werner hier im Ort geboren. "Das Gesundheitssystem zum Laufen zu bringen ist Aufgabe des Staates", sagt Werner, "das muss noch nicht einmal viel Geld kosten. Wir brauchen nur Strukturen".
Es ist ein kleiner Moment, in dem sich Ernst Werner und Elisabeth Görlich im alten Gemeindeschwesternheim gegenübersitzen, in der Gesundheitsstruktur von früher. Und beide merken, dass es schwer sein wird, so etwas in den kommenden Jahren aufzubauen.
Werners "Strukturen", das sind in Gemeinden wie Niederer Fläming in Wirklichkeit längst nicht mehr die Ergebnisse technokratischer Weichenstellungen aus Philipp Röslers Bundesministerium, das gerade in einer Regierungskommission um die Kopfpauschale feilscht. Die Strukturen kreisen nicht um Versorgungspläne und auch nicht um Landarztquoten. Die Strukturen sind Werner und Görlich selbst und die Nachbarn und Bekannten im Ort. "Wir versuchen die Probleme durch die sozialen Netzwerke aufzufangen", sagt Bürgermeister Werner, "bei uns auf dem Dorf gelingt das noch ganz gut." Für Elisabeth Görlich sind die Probleme die Touren zum Arzt nach Jüterbog, bei der sie von Bekannten aus dem Ort unterstützt wird. Werner hatte selbst auch schon Schwierigkeiten, war selbst Helfer, als er seine Mutter ohne nahe gelegenen Arzt pflegen musste, bis sie hochbetagt vor zwei Jahren starb. "Wir müssen uns aufeinander verlassen können, "aber auch da stoßen wir an Grenzen", sagt er, "es gibt Ortsteile, da leben nur noch 15 Menschen, früher waren es viel mehr". Trotzdem, sagt er, im Ort merkt man sofort, wenn jemandem etwas fehlt.
Es ist ja ohnehin eine ganz aktive Gemeinde, erzählt Werner, als er die Dorfstraße entlangläuft. "Wir haben eine Menge Vereine: Chöre, Volkstanz, Angler, Tierzüchter, Handball, Fußball, einen Künstlerzirkel." Zwischen seinem eigenen Haus, der 12, und dem alten Gemeindeschwesternheim, der 1, öffnet sich ein kleines Grundstück mit dem Ortsfriedhof und der Kapelle. "Es gibt sogar eine Initiative zum Wiederaufbau des Kirchturms", erzählt Werner, "bald haben wir genug Geld gesammelt." Hier wird doch was getan, im Ort, denkt er.
Gerade deshalb ärgert ihn das Gerede aus Berlin, aus der Politik. Die erzählten ihm immer, sagt er, die Kommunen müssten mehr tun, um attraktiver zu werden, dann würden auch die Ärzte wiederkommen. Das denken die in Berlin, im Ministerium. Aber da sollen die mal realistisch sein, sagt Werner, "wir werden hier nie ein Opernhaus haben, noch nicht mal eine Tennishalle". Und Hochöfen, sagt er, wirds im Niederen Fläming auch nie geben.
Und dennoch, so ganz aufgeben will Werner das nicht mit den Strukturen. Es gibt da eine ehemalige Schule, in der würde Werner gerne mit Fördergeldern der EU ein Heim für betreutes Wohnen aufbauen. "Vielleicht kann man für dieses Projekt auch einen Arzt motivieren." Nicht schlecht sehe es aus, sagt er. Am 19. April gibt es eine Vorentscheidung in der Gemeinde. Ein Arzt für zwei Tage die Woche würde ja schon reichen, für alle 23 Dörfer. Bis dahin machen sie das, was sie gut gelernt haben in den vielen Jahren des gemeinsamen Lebens. Worauf sie nun einmal angewiesen sind im Niederen Fläming.
Sie helfen sich selbst, wenns Berlin nicht hinbekommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe