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Manfred Böhmer, Verband Deutscher Sinti"Auch heute ist es noch schwer"

Manfred Böhmer lebt in Osnabrück und vertritt als Vorsitzender des Niedersächsischen Verbandes Deutscher Sinti die Interessen von 12.000 Sinti. Er sitzt mit seinem Sohn Romano im Büro der Beratungsstelle für Sinti und Roma in Hannover. Der Vater spricht über Auschwitz, der Sohn über Diskriminierung bei der Arbeit und beim Sport.

Durch Jesus Christus haben wir den Gott des Trostes", sagt der 63-jährige Manfred Böhmer. Bild: Christian Wyrwa
Interview von Roger Repplinger

taz: Herr Manfred Böhmer, wie haben Ihre Eltern den Genozid an den Sinti überlebt?

Manfred Böhmer: Die haben überlebt, weil sie von den Alliierten befreit wurden. Nach den Planungen der Nationalsozialisten dürften heute hier gar keine Sinti mehr leben. Mein Vater war in Auschwitz, meine Mutter wurde mit ihrer ganzen Familie im Mai 1940 ins Generalgouvernement Polen deportiert. Die erste Verhaftung betraf meinen Großvater und zwei ältere Brüder in Thüringen, das war 1938. Wie uns ging es den meisten Familien.

Wie groß war die Familie 1938?

Manfred Böhmer: 100 Personen, davon sind 60 ins Generalgouvernement verschleppt worden. Von Hamburg aus, sie waren mehrere Tage unterwegs, sie sind auf Toten gelegen. Ich könnte da manches sagen, aber ich möchte das nicht.

Zielort in Polen war ein Getto?

Manfred Böhmer: Ja. Meine Oma mit fünf Töchtern, deren Kinder, darunter der jüngste Sohn, sind wie Vieh aus den Waggons und in Wohnungen gejagt worden, in denen, das wussten sie nicht, Juden lebten, bis sie ermordet wurden. Aus den Fenstern der Getto-Wohnungen sind Kissen geflogen. Als sie näher gekommen sind, und sich die Kissen anschauten, waren die blutig. In den Kissen hatte die SS die Säuglinge der Juden erschossen. In diesem Getto war ein Teil meiner Familie bis 1944, dann waren die Russen im Anmarsch. Mein Schwiegervater und andere sind zum Getto-Kommandanten gegangen und haben gesagt: "Die Kinder leiden, die Leute sind krank, sie hungern." Es gab nur noch ein Dreieck Kommissbrot und einen Teller Suppe mit einem Blatt Kohl pro Tag.

Was hat der Kommandant gesagt?

Manfred Böhmer: Gut, dass sie sich darauf nicht verlassen haben. Mein Schwiegervater hat gesehen, dass auf dem Schreibtisch des Kommandanten ein Stapel Flüchtlingsausweise lag. Die hat er gestohlen, als die anderen den Kommandanten abgelenkt haben. Einer hat die Ausweise ausgefüllt, so hat mein Schwiegervater Gustav Laubinger etlichen deutschen Sinti und Roma das Leben gerettet. Sie sind dann 1944 mit einem Zug, nicht im Viehwaggon, aus Polen zurück nach Osnabrück geflüchtet. Dort gab es neue Baracken. Als herauskam, dass sie Sinti sind, kamen sie nach "Papenhütte", wo ein russisches Kriegsgefangenenlager war.

Die Böhmers

Manfred Böhmer, 64, lebt in Osnabrück, war ein erfolgreicher Kaufmann, ist nun geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma in Hannover. Sein Sohn Romano, 43, hat, zusammen mit zwei Kompagnons, einen Dachdecker-Meisterbetrieb in Osnabrück.

Heute Kiefernstraße in Osnabrück.

Manfred Böhmer: Ja. Ein Teil der Familie ist nicht aus Polen geflüchtet, die Oma und ihre Töchter sind geblieben, und über Ravensbrück nach Bergen-Belsen gekommen. Mein Opa, zwei Onkel und mein Vater waren in Buchenwald.

Hat Ihr Vater von Buchenwald und Auschwitz erzählt?

Manfred Böhmer: Sehr verhalten. Manchmal hat er gesagt "Sohn, hör zu", und dann hat er gesungen: "O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist, wer dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist".

Das Lied von Ivan Ivanji. Es war schwer, darüber zu sprechen.

Manfred Böhmer: Heute noch ist es schwer. Sehr schwer. Mein Vater war zur gleichen Zeit dort wie Ilse Koch, die Hexe von Buchenwald. Sie wissen, sie hat Lampenschirme aus Menschenhaut machen lassen. Mein Vater hat Reitstiefel für sie gemacht. Als mein Vater in Auschwitz war, sind drei Kinder eines seiner Brüder im Zigeunerlager II e eingetroffen. Die Kleineren sollten am nächsten Tag zum "Duschen", der Älteste sollte nicht vergast werden. Mein Vater konnte seinen Neffen nicht helfen. Der Älteste ist auch mitgegangen, er wollte die Kleinen nicht allein lassen - mit einem Handtuch über dem Arm und einem Stück Seife in der Hand in die Dusche.

Da gibt es keinen Trost.

Manfred Böhmer: Es gibt Trost. Durch Jesus Christus haben wir den Gott des Trostes, er ist unser Vater. Denken Sie an den Satz bei Jesaja: "Ihr sollt auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man euch freundlich halten. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet."

Hilft Ihnen das?

Manfred Böhmer: Ich habe meine Mutter gefragt: "Hast Du in Bergen-Belsen was Gutes erlebt?" Sie hat gesagt: "Nein. Da war nur Typhus, Hunger, Durst, Not, Ungeziefer und Tod." Dann hat sie überlegt: "Doch, da war was Gutes. Abends, wenn wir uns hingelegt haben, da haben in der Baracke nebenan die jüdischen Häftlinge gesungen, da war alles Leid für ein paar Minuten vorbei."

Ihre Oma und ihre Mutter sind zusammengeblieben, um sich gegenseitig zu helfen?

Manfred Böhmer: Ja. Meine Mutter hat mit einer Freundin in der Nähe der Stelle gearbeitet, wo heute in Bergen-Belsen der Obelisk steht. Die Tochter der Freundin hat gespielt. Meine Mutter und ihre Freundin haben sich bei der Arbeit unterhalten, die Tochter ist weggelaufen. Dann hören die beiden einen Schuss, die Tochter liegt da, in der Nähe des Zauns. Meine Mutter konnte nicht mehr weinen.

Wie ist es Ihrer Großmutter ergangen?

Manfred Böhmer: Ja, meine Oma. Die Capos vom Leichenkommando kamen in die Baracke und sagten: "Die ist tot." Meine Tanten sagten: "Sie lebt noch." Die Kapos sagten: "Die ist tot." Meine Tanten mussten meine Oma auf den Leichenkarren werfen, sie ist dann bei lebendigem Leib in ein Massengrab gekommen.

Wann haben Sie begriffen, was Ihrer Familie angetan worden war?

Manfred Böhmer: Wenn Verwandte zu Besuch gekommen sind: nur Tränen. Ich hab mich immer gefragt: Warum weinen die immer, wenn sie sich sehen? Die Hälfte der 100, von denen wir am Anfang gesprochen haben, sind ermordet worden. Wenn sie zusammenkamen, haben sie gemerkt, wer fehlt, deshalb haben sie geweint.

Wie war es nach 1945 mit dem, was Wiedergutmachung hieß?

Manfred Böhmer: Sehr dramatisch. Die Anträge meines Vater und meiner Mutter wurden abgelehnt. Sie seien aus kriminalpräventiven Gründen inhaftiert worden, nicht aus rassischen, daher kein Anspruch auf Entschädigung.

SS-Männer und deren Hinterbliebene bekamen Rente.

Manfred Böhmer: Genau, die Sinti sind durch alle Maschen gefallen, nur die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hat geholfen, in den 60er Jahren gab es erste Urteile, nach denen Sinti aus rassischen Gründen verfolgt wurden.

War das ein Grund für Sie, sich für die Sinti einzusetzen?

Manfred Böhmer: Ja, und die schreckliche Wohnsituation, die Jahrzehnte nicht verbessert wurde. Unsere Familie saß nach dem Krieg im Königskamp in Leer, in Ostfriesland, neben der Müllkippe, in Bremen war das auch so. Die Bildungssituation war furchtbar. Daran arbeiten wir bis heute.

Herr Böhmer Junior, Ihr Sohn Enrico, 17 Jahre alt, hat mit der B-Jugend eines Osnabrücker Clubs in der Landesliga gespielt?

Romano Böhmer: Enrico ist Stürmer, er hat eine Menge Tore gemacht, plötzlich hat ihn der Trainer nicht mehr aufgestellt. Ich hab mit dem Trainer geredet, er hat behauptet, er hätte einen anderen Stürmer. In Wirklichkeit hatte er herausgefunden, dass wir Sinti sind. Irgendwann ist er mir ausgewichen und hat nicht mehr mit mir geredet. Mein Sohn litt unter der Situation. Ich bin zum Vorsitzenden des Clubs gegangen, der sagte: "Wir hatten Angst, dass ihr als Zigeuner uns Probleme macht." Er hat mir geraten, meinen Sohn abzumelden, das hab ich gemacht.

Wo spielt Enrico jetzt?

Romano Böhmer: Beim SC Lüstringen, eine Liga drunter.

Und?

Romano Böhmer: Er kommt gut klar.

Es gibt diese Diskothek in Osnabrück.

Romano Böhmer: Ja, das Alando Palais, die sagen: Zigeuner kommen hier nicht rein.

Wie ist das in der Schule?

Manfred Böhmer: Unsere Kinder werden nicht so behandelt wie die anderen. Und wenn ich versuche, zu vermitteln, sehen das nicht alle Lehrer gern.

Romano Böhmer: Unsere Kinder werden nicht zu Geburtstagen anderer Kinder eingeladen. Sie fragen: Warum?

Was sagen Sie?

Romano Böhmer: Ich sag: Das war bei uns auch schon so.

Das macht es nicht besser.

Romano Böhmer: Nein, macht es nicht.

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