Mallorca — Fahrt ins Blaue

■ Ehemalige „Blankenburger“ und andere Langzeitpsychiatrie-Patienten wollen die ganze Normalität: einen Urlaub auf Mallorca

Hermann Hanko stopft den Rest seiner Zigarre in die Pfeife, damit auch nur ja kein Tabackrümel umkommt. Dann nuschelt er — er nuschelt immer — etwas von „Sonnenöl“, das er schon eingekauft hat. Der 53jährige, der bei einem Waller Kindergarten fegt, hat sich vorbereitet: für Mallorca, seinen Traum.

Wir sitzen in der leicht abgewetzten Küche eines kleinen Waller Hauses, schlürfen sehr schwarzen Kaffee und rauchen sehr schwarzes Kraut. Unser Thema: Mallorca. Anneliese Pilz („Wie der im Walde“) ist 70 und sehr klein. Sie hört schlecht. Aber sie hat Bilder gesehen. „Das muß schön sein auf Mallorca, und warm. Ich schwimm' so gern! Hier geh' ich immer ins Waller Seebad, von fünf bis sieben, für ältere Damen.“ Sie hat Schuhgröße 33, und hofft, auf Mallorca schicke Schuhe zu bekommen. Sie hat schon ihre Sachen gewaschen, „die brauch' ich nur einzupacken.“

Auf dem Tisch liegt eine Uhr, die kann sprechen. „Hast du die Uhr gehört?“ fragt Caroline Lutter. „16 Uhr 1.“ Was Frau Lutter alles kann: „Ich kann alleine einkaufen, ich kann telefonieren, ich kann alleine Fenster putzen, ich kann kochen, ich kann die Toilette reinigen.“ Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die 64jährige blonde breitschultrige Hünin seit ihren 17. Lebensjahr blind ist. Frau Lutter hat ihre Einkaufsliste für Mallorca im Kopf: Kurze Hose, Badeanzug, Sonnenbrille, Kulturtasche, Sonnenhut, schöne Unterwäsche... Sie hat ein phänomenales Gedächtnis und weiß die Daten des Fluges ganz genau: 25.4., 7.15 Uhr ab Bremen, 10.05 Palma de Mallorca, „und wir kriegen im Flugzeug Frühstück, wollen mal sehen, ob das schmeckt.“

Caroline Lutter erinnert sich auch an ein anderes Datum ganz genau: Es war der 15.11.1984,

Herr Hanko, Frau Pilz und Frau Cutter sind bestens vorbereitet für ihre Reise in die Normalität: nach MallorcaF.:Jörg Oberheide

neun Uhr früh. Da bekam sie im Kloster Blankenburg, einem „Endlager“ psychischer „Langzeitfälle“ 60 km von Bremen entfernt, Besuch. Ihr Vormund lud sie zum Kaffee ein. In der Klinik sprach man später von der „Entführung einer Blinden und Schwerkranken“: der Vormund schaffte Frau Lutter kurzerhand in eine Wohngemeinschaft nach Bremen, in der lauter „Ex-Blankenburger“ lebten. Bis dahin konnte Frau Lutter, insgesamt 36 Jahre in psychiatrischen Anstalten eingesperrt, nicht mal ein Brötchen schmieren.

Sechs ehemalige Insassen von Landeskrankenhäusern und psychiatrischen Langzeit-Einrichtungen, alle seit Jahren in

Freiheit und in betreuten Wohngemeinschaften untergebracht, nehmen sich jetzt auch die Freiheit, die des (west-) deutschen Bürgers selbstverständlichste ist: sie reisen nach Mallorca. Sie sind zu Teil jahrzehntelang gespritzt, mit Tabletten vergiftet, an Händen und Füßen festgeschnallt worden, sie waren über viele Jahre — das bringt sie fast am meisten auf — entmündigt. Nach dem italienischen Vorbild — Auflösung der Anstalten — gab es dann Anfang der 80er auch in Bremen einen Modellversuch Psychiatriereform. Bis 1989 wurde die Klinik Blankenburg, vom Land Bremen für seine „hoffnungslosen Fälle“ gepachtet, aufgelöst. Die meisten der

300 Insassen wurden auf professionelle Träger wie die AWO verteilt und kamen in kleinere Heime. Lautstark und aktiv mischte damals aber auch eine „Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e. V.“ mit (kurz: „Initiative“); sie betreut heute 109 ehemalige Patienten in 25 Wohngemeinschaften im ganzen Bremer Westen.

Die kleinen Schuhe, die Frau Pilz jetzt trägt, hat sie vor acht Jahren in Bielefeld gekauft. Damals war sie mit der „Blauen Karavane“ unterwegs, einem Zug von „Verrückten“ durch die Republik, vorbei an den Häusern, wo immer noch die „Chronifizierten“ eingesperrt waren. Man

führte ein blaues Pferd mit, Musik und Zeugen aus Triest, der italienischen Zentrale der Psychiatrie-Revolte. Frau Pilz kennt, wie alle anderen, noch genau ihr Lied: „Blau ist die Farbe...“ Sie sind nach Triest gereist, haben Vorträge gehalten, sind auf dem Kirchentag aufgetreten. Jetzt wollen sie wieder reisen. Aber nicht, wie das Sozialamt will, innerhalb einer „therapeutischen Ferienmaßnahme“ in den Schwarzwald oder an die Ostsee: nein, sie wollen dahin, wo ihre Nachbarn und Arbeitskollegen hin fahren, ins Ausland, nach Mallorca.

„Wie heißt noch Guten Tag?“ Caroline Lutter lernt schon Spanisch. Herr Hanko will mitmachen. Frau Pilz sagt: „Ich kauf'mir so'n kleines Buch, deutsch-spanisch.“ Das Geld für die Reise haben alle Teilnehmer gespart; es sind erstmal nur sechs, die das bezahlen und mitfahren können. Sozialhilfe, kleine Rente, Blindenhilfe, Ersparnisse.

Entmündigt ist keiner der Mitreisenden mehr. Das Selbstbewußtsein der ungeduldig Wartenden, die sich jetzt regelmäßig zur Vorbereitung treffen, ist ganz erstaunlich. Doch man braucht nur an das großartige „Blaumeier“-Theater zu denken, das die Bremer alljährlich wie vom Donner rührt, um zu wissen warum. Diese Ex-Blankenburger haben von Zeit zu Zeit ganz verrückte, unvergeßliche Auftritte, von denen „Normale“ nur träumen. Was Frau Lutter nicht alles schon einmal war: eine Gräfin, eine Kaiserin- Mutter, zweimal Königin, und einmal im Fernsehn!

Der Betreuer Jörg Utschakowski (30) sieht die Bedeutung der Mallorcareise so: Die Reise sei ganz „im Sinne der Wiederherstellung der bürgerlichen Normalität der jahrelang Internierten, als Hilfe zur Wiedereingliederung zu verstehen.“ Bewußt wählt er justiziable Begriffe: Die „Initiative“ hat beim Sozialamt den Antrag gestellt, wenigstens zwei Betreuer zu finanzieren — sie sind für das Gelingen des Unternehmens unabdingbar, wegen der verschiedenen Handicaps der Reisenden und ihres teilweise hohen Alters. Für die Teilnehmer sieht Utschakowski noch einen ganz anderen Nutzen — sie könnten erfahren, daß man sein Geld auch für ein Abenteuer ausgeben kann. Bisher überwiege — ein Hospitalismus-Schaden — die Meinung, mit Geld müsse man sich ausschließlich Zuwendung und Beziehung kaufen.

Ein alter Recke der „Initiative“ ist Helmut Herzog, heute Geschäftsführer. Er glaubt, daß angesichts der rechten Gewalt besonders gegen Behinderte und wegen der behindertenfeindlichen Urteile deutscher Gerichte Offensive nötig sei. Und dazu gehöre auch die „strategische Besetzung“ von Urlaubsorten. Er denkt schon an einen Immobiliekauf auf Mallorca. So weit gehen die Phantasien der blinden Caroline Lutter nicht, aber höher: „Wie das wohl ist, so oben über den Wolken? Ich bin ganz Feuer und Flamme! bus