Mail aus Griechenland: Die Lücke im Sozialen
Faschistische Kräfte übernehmen Aufgaben, die der Staat nicht mehr erledigt. Vor allem Polizisten gehören zu den Wählern der „Goldenen Morgenröte“.
ATHEN taz | Noch Tage nach den Wahlen kreisen unsere Gespräche in Athen um die Neonazis der „Goldenen Morgenröte“. Ihre Wahlerfolge scheinen die Gesellschaft unvorbereitet zu treffen, in einem Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg mit keinen erwähnenswerten faschistischen Kräften konfrontiert wurde.
Besonders alarmierend ist, dass die Gewaltangriffe gegen Migrantinnen kurz vor den Wahlen in keinster Weise als Abschreckung für die Wählerinnen fungierten. Jetzt ist klar, dass sich die Faschisten bei gut 7 Prozent stabilisiert haben. Wie kommt es dazu? Was heißt das für die migrantischen Communitys? Was möchte man dem entgegenstellen?
Diese Fragen stellten wir dem Aktivisten afghanischer Herkunft, Nasim Lomani, vom „Netzwerk für politische und soziale Rechte-Dyktio“, das eins der wichtigsten Zentren für Sprachkurse und Rechtsberatung für MigrantInnen in Athen ist.
Katrin Bahrs,Ted Gaier, Charalambos Ganotis, Irene Hatzidimou, Sylvi Kretzschmar, Christine Schulz, Margarita Tsomou und Christoph Twickel sind das aktivistisch-künstlerische Schwabinggrad Ballett. Das Kollektiv berichtet zwei Wochen lang für die taz aus Athen. schwabinggrad-ballett.posterous.com
Nasim Lomani lebt seit über 10 Jahren in Griechenland, er spricht von historischer Zäsur. Durch die Verbindung von parlamentarischer Strategie und offener Gewalt auf der Straße im letzten Wahlkampf gelingt es der „Goldenen Morgenröte“ zunehmend, faschistische Kriminalität gesellschaftlich zu legitimieren. Lomani betont, dass die Gewalt nicht nur Migrantinnen, sondern auch Obdachlose, Sexarbeiterinnen, Homosexuelle und Linke betrifft.
Die gegen diese Gruppen erzeugte Öffentlichkeit werde, so Nasim, auch von den Konservativen benutzt, um das Klima für das rechte Lager zu nutzen. Dafür spricht die in Deutschland wenig skandalisierte Aussage des Wahlkampfmanagers Nordgriechenlands der Nea Demokratia Psomiadis, der die „Goldene Morgenröte“ in seiner Auflistung rechter Schwesterparteien prominent miterwähnte, oder die Tatsache, dass die „Migrantenproblematik“ zentrale Säule des konservativen Wahlkampfs war.
Weitaus weniger indirekte Unterstützung bekommen die Nazis aus dem Inneren der griechischen Polizei: In den Wahllokalen, in denen die Polizei wählte, erlangten die Nazis horrende Ergebnisse von 17 bis 25 Prozent. Durch solche Haltungen von Teilen des Establishments steigt die Gefahr, dass die noch jungen, faschistischen Kräfte sich langfristig als salonfähig etablieren.
Elend und Besen
Aus unserer Erfahrung mit Anti-Nazi-Aktivitäten in Deutschland heraus fragen wir nach Strategien gegen die schwarze Pest. Nasim berichtet von antifaschistischen Demos in Stadtteilen wie Perama oder Kallithea, wo sich migrantische Communitys mit griechischen Aktivisten organisieren – sie würden allerdings nicht ausreichen. Denn die Nazis verwurzeln sich durch Nachbarschaftsarbeit.
Erfolgreicher Präzedenzfall ist ihr seit über zwei Jahren währender Aufbau im Stadtteil Agios Panteleimonas. Sie helfen den neuen Armen mit medizinischer Grundversorgung, verteilen Nahrungsmittel, helfen Omas über die Straßen oder fahren Notfälle ins Krankenhaus. „Die Krise hat das soziale Netz durchlöchert, und sie füllen die Lücken“, so Nasim, „da können unsere Netzwerke noch so viel Antifa-Arbeit machen. Sie wirkt wenig, wenn die öffentliche Hand nicht dafür aufkommen kann, soziale Sicherheit zu gewährleisten – die Menschen verelenden, begehen Selbstmord, haben Angst.“
Ein wichtiger Weg wäre, die Lehrer bei der Präventionsarbeit in Schulen zu unterstützen. Sie sind schutzlos gegen den Aufbau faschistischen Nachwuchses, vielen wird offen gedroht. All das sei auch die Verantwortung Europas. Die Brüsseler Spardiktate bringen die Gesellschaft an ihre Grenzen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Mit Verweis auf Dänemark oder Frankreich argumentiert Lomani, dass die faschistische Gefahr im Begriff ist, sich in ganz Europa aufzustellen.
Dominant ist seine Argumentation über die Verantwortung der europäischen Politik auch in Bezug auf die Probleme von Migranten. „Griechenland ist das offene Internierungslager Europas“, sagt er und bezieht sich auf den Dublin-II-Vertrag, der Migranten auf dem Weg nach Zentraleuropa in Griechenland festhält. Die Europäer und vor allem Deutschland würden gerade über das griechische Budgetrecht verfügen und stellen dem Staat Ressourcen zur Bildung von Abschiebelagern und Verfolgung von Illegalen zur Verfügung.
Abends laufen wir im Zentrum Athens durch die Evripidou-Straße. Zwei Polizeiwannen versperren die Straße. An einer Häuserwand sitzen Migranten auf dem Boden. Ein Polizist in Zivil steht vor ihnen und ruft: „Wer ist der Nächste?“ Eine Straßenecke weiter kontrolliert ein anderer mit ausgefahrenem Teleskop-Schlagstock die Ausweise von drei jungen Migranten. Wie wir später erfahren, läuft an diesem Abend des Fußballspiels Griechenland–Deutschland eine weitere Operation „Besen“.
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