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„Mahlzeit“ im Amtsgericht Charlottenburg

■ Milljöh im Keller für 3 Mark 80 / Die Kantine ist seit Jahrzehnten Treffpunkt von Kiez, Sekretärinnen und „Direktoren“ / Bratkartoffeln und Matjes gibt es immer / Mexikanischer Eintopf a la Berlin seltener / Nichts für Vegetarier dabei

Das Amtsgericht Charlottenburg ist ein kleiner Justizpalast für unspektakuläre Prozesse, Streitereien zwischen Geschäftsleuten, Mietsachen und Schulden.

Der hungrige Kiezbewohner öffnet die Tür, links grüßen grimmige Terroristen von der Wand, rechts winkt ihm eine Belohnung, wenn er den Namen des unbekannten Mordopfers weiß. Noch eine Glastür. Er nimmt nicht die große Treppe, die vor ihm ins Labyrinth der Rechtsfindung führt, er biegt scharf rechts ab. Dort hängt, in einem Glaskästchen, der Wochenplan der Gerichtskantine.

Vier Gerichte. Von Montag bis Freitag. Von 3,80 bis 6,80 Mark. Die Tür zum Keller. Beim Öffnen schlägt der Geruch von Braten und gekochtem Gemüse entgegen. Vier, fünf Stufen führen in den Vorraum mit vier Tischen. Mittags um eins, vor allem im Winter, ist es voll. Man muß sich das Märkchen kaufen, im nächsten Raum, am Tresen.

Nochmal der Blick auf den Wochen-Speiseplan. Die hinterm Tresen, es ist die Frau vom Koch, begrüßt mit „Mahlzeit“. An den Tischen sitzen die Stammgäste, meist Witwen, seltener alte Männer, aus dem Kiez, mit und ohne Kleinhund bewaffnet. Man trifft sich seit Jahren hier, mit dem hinterm Tresen sind viele per du. „Nimmste Matjes mit Bratkartoffeln, dit jibts imma“, sagt die Wirtin zu einer, die sich nicht entscheiden kann.

Mit dem Märkchen in den dritten Raum, den größten. Die Warteschlange vor der Ausgabe, vor allem ums eins. Unüberhörbar die Stimme vom dicken Koch. „Noch jemand Hackbraten?“ Rechts und links neben der Reihe an den Tischen ißt Berlin. Reichlich. „Ordentlich“, wie man als Preuße sagt. Die Cliquen der Justizbediensteten, man erkennt sie an dem am Gürtel hängenden Schlüsselbund. Einer liest aus der 'BZ‘ vor. Ein oder zwei Tische mit Bauarbeitern, die in der Gegend zu tun haben. Berge werden verschlungen. Und man kann den Koch beim Wort nehmen. „Wenn's nich‘ reicht, nochmal nachnehmen, ja?“ An der kleinen Durchreiche schließlich angekommen, sieht man ihn agieren. Jeder wird begrüßt, Stammgäste mit Handschlag, andere mit „Misjöh“ oder „Herr Direktor“. Für die Sekretärinnen im Hause wird in Plastik gepackt, mit Alufolie drüber. Meist drei oder vier Portionen, oben im Büro: „Wer iss'n heute dranne mit Essen holen?“ Die Abgeordnete braucht nicht Schlange zu stehen, bestimmt hat sie per Telefon geordert.

Der „Meester“ mit der weißen Schürze schwitzt durch sein Reich, Leib und Seele jongliert da mit Tellern, Töpfen und Tranchiermessern. Ein Sattmacher. Vor allem Kartoffeln. „Reicht so?“ Dann das Gemüse. „Erbsen? Möhren? Ick hab‘ Rot -Jrün ooch zum Fressen jern.“ Humor in Berlin.

Der Teller wird gereicht. „Bittschön, und mit Liebe.“ Einen Platz suchen. Dicke Luft. Am besten im ersten Raum gleich am Eingang. Noch mehr Esser kommen. Manchmal eleganter, mit Akte unterm Arm. Anwälte, aber seltener. Stärkste Gruppe ist der Kiez. Auf dem Teller keine Überraschungen. Milchreis mit Backobst zu Dreimarkachzich. Eisbein zu Sechsmarkachzich. „Wie bei Muttern.“ Kein Ort für Vegetarier und andere Exoten.

Ab und zu steht Mexikofleisch auf dem Plan, dann ist die Soße etwas pikanter. Ansonsten unverfälschte, preußische Eßkultur. Berlin, wie es leibt. Wer in der Drehe Sophie -Charlotte-Platz, Stutti, Lietzensee lebt oder arbeitet und mittags schlicht knüppelsatt werden will, geht zum dicken Koch in den Keller. Im Keller wird nicht verhandelt, vernommen, verurteilt. Im Keller wird gevöllert.

Der Kiez kennt und schätzt seine Gerichtskantine, zwischen halb zwölf und halb drei geht man zwecks Essen vor Gericht. Das ist kein Geheimtip a la „Anders Essen in Berlin“, sondern ein Stück Stadt, aufgeführt seit Jahrzehnten, alltäglich, aber echt.

kazper

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