Märchen erzählen: Tröstungen
Maria Schild ist Märchenerzählerin. Über ein Leben abseits aller hochtechnisierten Kommunikation, wo das Erzählen aus dem Gedächtnis zum Akt vollkommener Unabhängigkeit wird.
Ich bin nur ein Vogel, dem es vor dem Winterfrost graut und der in den Zweigen keine Zuflucht findet, die Herbstgrille, die den Mond anzirpt und sich an die Tür schmiegt, um ein wenig Wärme zu erhaschen. Wo sind die, die mich kennen?
Pú Sung-ling (17. Jh.)
Maria Schild, Märchenerzählerin seit 1985, 1949-1957 Besuch der Volksschule in Hessen, 1957 Hauswirtschaftslehre, Bochum. 1960 Kinderpflegerinnen-Schule, Bochum. 1961 Kindergärtnerinnen-Seminar, Bochum, 1961 Wechsel nach Berlin ans Pestalozzi-Fröbel-Haus, 1963 Abschluss als Erzieherin, Ausbildung zur Schauspielerin, 1965 Abschlussprüfung vor der Deutschen Bühnengenossenschaft Berlin, Prüfer Erwin Piscator, 1966 Geburt des Sohnes Kolja. Engagements an div. Bühnen (u. a. Schaubühne a. Halleschen Ufer, politisches Kabarett "Wühlmäuse"). 1969, Erzieherin in Berlin Kreuzberg. 1971 Studium a. d. Fachhochschule f. Sozialarbeit,Berlin, 1975 Abschluss als Sozialpädagogin. Ab 1975 (bis 2005) Arbeit in der interkulturellen Familienberatung "Arbeitskreis Neue Erziehung" Berlin. Daneben, von 1980-1987, Studium d. Ethnologie an der Freien Universität Berlin (Schwerpunkt Schamanentum sibirischer Völker u. Mythen der Welt). Seit 1984 Auftritte als Märchenerzählerin u. Seminare zur "Kunst des freien Erzählens", zahlreiche Reisen mit Teilnehmern d. Seminare in die Ursprungsländer der Märchen. Diese Reisen und eine Auswahl der unterwegs erzählten Märchen sind unter dem Titel "Blaue Karawane" dokumentiert, Bd. I "Von Moskau an den Amur", Bd. II "Entlang der Seidenstraße", Bd. III "Nach Mesopotamien", Berlin, 2003/2004, Verlag Hans Schiler. (Ein Hörbuch erscheint Ende 2007.) Maria Schild wurde 1942 in Kassel geboren, sie ist geschieden u. hat einen Sohn.
In Zeiten hochtechnisierter Kommunikationssysteme, deren jederzeit möglicher Zusammenbruch den Verlust aller Verbindungen androht, in denen jedes über die Medien vermittelte Reden erfasst, kontrolliert und gesteuert ist, wird Erzählen aus dem Gedächtnis zu einem Akt vollkommener Unabhängigkeit. Mit einem Minimum an Aufwand kann der Erzähler ein Maximum an Ideen, Bildern und Empfindungen im Zuhörer erzeugen. Seine Instrumente hat er immer und überall bei sich; im Funkloch, bei Stromausfall, in jedem Abseits.
Die Märchenerzählerin Maria Schild lebt in einer schönen kleinen Altbauwohnung im Berliner Bezirk Schöneberg. Zum Leidwesen aller Ungeübten im obersten Stockwerk. Sie empfängt uns sehr herzlich. Das Wasser im Samowar brodelt bereits, bald halten wir einen Tee in Händen und betrachten die Bücherregale. Da stehen Romane, Lyrik, Wissenschaftliches, Kunst- und Reisebildbände, vor allem aber sehr viele Märchen und Mythen aus aller Welt, neben Werken von Autoren wie Lichtenberg, Karl Philipp Moritz, Kafka. Sie deutet auf einige Bände: "Und hier steht mein Pú Sung-ling, habt ihr gesehen? Der berühmte chinesische Geschichtensammler aus dem 17. Jahrhundert. Martin Buber hat Teilübersetzungen seiner Geschichten gemacht. Und Kafka auch, das ist gar nicht so bekannt. Aufregende Geschichten sind das. Hier, mein Raoul Schrott 'Die Erfindung der Poesie', aus Enzensbergers "Anderer Bibliothek". Ein wunderbares Buch ist das, sowohl inhaltlich als auch in ästhetischer Hinsicht. Das habe ich mir geleistet. Und den Brecht da, den habe ich mir damals gekauft, als er rauskam, obwohl ich kein Geld hatte. Ich liebe Bücher sehr. Mein Geld gebe ich deshalb lieber für Bücher aus und spare anderswo. Ich habe keinen Fernseher, kein Radio, keine Zeitung, keinen Computer, kein Handy, nur meinen Festnetzanschluss. Meine Musik höre ich auf der Anlage hier. Damit bin ich schon glücklich.
Und ihr wollt nun also wissen, was es mit dem Märchenerzählen auf sich hat? Mein geschätzter Christoph Lichtenberg hat vor 250 Jahren gesagt: 'Nur nicht mit dem Anfang anfangen!' Dazu, bevor ich also anfange, noch eine kleine Geschichte: Ich war im Goethe-Institut eingeladen, in Göttingen, wo ja Lichtenberg bis an sein Lebensende wohnte. Ich habe dort ein Märchenseminar gemacht und mir natürlich auch Lichtenbergs Wohnhaus angeschaut, und sein Denkmal, das zur 250-Jahr-Feier aufgestellt wurde. Es zeigt ihn in Lebensgröße, so 1,52 etwa. Er steht auf einer Bodenplatte, nicht auf einem Sockel, und für den Guss wurde ein Lenin in Aserbaidschan eingeschmolzen." Sie schenkt Tee nach, reicht uns frische Minze dazu und Kuchen, dann beginnt sie zu erzählen:
Die Frage, wann es bei mir angefangen hat, kann ich nur so rum beantworten: Am Anfang war meine Großmutter. Das war eine wunderbare Frau. Sie hat mit ihrem Erzählen - ich bin ja im Krieg geboren, und danach war es auch sehr notdürftig - damit hat sie alles Ungute, alle dunklen Zeiten, alle Entbehrungen vertrieben. Wir waren ausgebombt in Kassel und lebten zwangseingewiesen bei Bauern. Im Winter war es unvorstellbar kalt, an den Wänden glitzerte grüner Schimmel, die Fenster waren zugefroren und sahen aus wie Spitzengardinen, im Bett hatten wir eine Strohmatratze. Die Füße haben wir uns an einem heiß gemachten Stein gewärmt, und wenn ich im Bett lag, dann hat meine Großmutter erzählt, vom Schloss, von der Schneekönigin. Das alles bei Kerzenlicht. Und in der heißen Asche hat sie Kartoffeln gegart. wenn sie hatte, gabs dazu Butter oder Dickmilch. Sie hat es alles so gemacht, dass ich mich an eine Not nicht erinnern kann. Sie konnte Balladen bis zur letzten Strophe und zahllose Märchen, die ich dann teilweise wiedergefunden habe später bei den Grimms. Sie hatte das alles im Kopf. Bücher gab es nicht bei uns. Vieles hat sie auch selbst erfunden. Dabei hat sie nur vier Jahre die Schule besucht.
Sie hatte auch ein großes Wissen über die Natur. Sie kannte alles, was in Wald und Feld essbar war. Wir gingen morgens los und kamen abends zurück. Pilze, Beeren, Kräuter, Holz, alles haben wir gesammelt. Sie kannte auch die Tiere, die Vögel und Insekten. Sie machte die Stimmen der Vögel nach und hat behauptet, dass sie mit ihnen sprechen kann, die Sprache der Tiere versteht. Oft gingen wir weite Wege und sie hat von den Zwergen unter der Erde erzählt, von versteckten Schätzen, von Baumgeistern. Zu Hause in den Pantoffeln wohnte der Hausgeist drin, der bekam immer eine süße Gabe hingelegt, damit er zufrieden ist. Meine Oma war 1900 geboren und natürlich gebeutelt durch zwei Weltkriege. Sie wusste, wie man sich in der Not behelfen muss. Wenn ich in der Schule war, habe ich meine Schulspeisung mit nach Hause genommen und sie mit der Großmutter geteilt. Manchmal habe ich Mummelchen zu ihr gesagt, weil sie ja wie meine Mutter war. Sie hatte mich ja zu sich genommen, weil ich unehelich war. Meine Mutter galt dann als vermisst nach dem Bombardement. Meine Großmutter hat mich als ihr eigenes Kind ausgegeben, auch in der Nachkriegszeit noch. Sie hat mich auch immer getröstet. Es war so, dass die Dorfkinder uns Evakuierte aus der Stadt nicht mochten, dort im hessischen Schwalmtal. Ich ging in eine, man nannte das Zwergenschule. Vier Klassen wurden gemeinsam unterrichtet, das war natürlich wunderbar, der Lehrer, ein großartiger Mensch, mochte mich. Bei seiner Frau zu Hause durfte ich immer die Nadeln einfädeln. Sie war Schneiderin. Im Haus des Lehrers und auch des Pfarrers, da habe ich mich oft und gern aufgehalten, denn da gab es Bücher! Ich durfte sie lesen! Aber die Geschichten meiner Großmutter stellten alles in den Schatten. Sie war eine Frau mit großer Herzensbildung und sie hatte Achtung vor jedem Lebewesen und jeder Pflanze. Un-Kräuter, sagte sie, gibt es nicht, unnütze Tiere gibt es nicht. Jede Pflanze, jedes Tier hat seinen Sinn. Sie hat mir sehr viele Dinge beigebracht und sie hat mir Lebensfreude, Sicherheit und Selbstsicherheit gegeben. Das war meine 'Aussteuer', mein 'Guthaben' fürs spätere Leben. Ich habe ja keine großartige Schulbildung, nur ganz normale Volksschule. Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt: 'Lerne was und sammle keine Reichtümer. Die können über Nacht weg sein. Sammle Wissen!'
Das habe ich beherzigt und habe eine Hauswirtschaftslehre gemacht, mit 14, in einem katholischen Krankenhaus im Ruhrgebiet. Diese Lehre dauerte zwei Jahre lang. Zehn bis zwölf Stunden arbeiteten wir in der Küche, 1.400 Leute waren zu versorgen von dieser Küche, die von drei Nonnen geleitet wurde. Es war sehr anstrengend, aber ich war froh, dass ich das machen und da leben konnte. Ich hatte ein Dreibettzimmer, mit zwei anderen Lehrlingen zusammen. Wir bekamen 20 Mark Lehrgeld im Monat, die Schürzen und Häubchen wurden gestellt. Ich wollte diese Lehre machen, weil ich hoffte, Kinderpflegerin werden zu können. Da musste man damals zuvor noch ein Haushaltsjahr machen. Und man musste dazu die Mittlere Reife haben. Also habe ich dann die Kinderpflegerinnenausbildung angefangen, habe die Kinderpflegerinnenschule besucht und bin abends zur Schule gegangen, um die Mittlere Reife nachzumachen. Dadurch habe ich dann wieder zwölf Stunden und mehr am Tag gearbeitet. Die Rektorin und die Prorektorin, die haben sich beide sehr um mich gekümmert, sie haben für mich Anträge gestellt zur Ausbildungsbeihilfe. Die beiden Frauen haben zusammen gelebt, und da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass es auch noch andere Lebensformen gibt. Das waren tolle Frauen! Dann habe ich zu der Kinderpflegerinnenausbildung noch ein Kindergärtnerinnenseminar absolviert und eine Erzieherausbildung angefangen, auch auf dieser Frauenfachschule in Bochum, da war ich 17.
Also ich habe es als staatenloses Mädchen nicht einfach gehabt. Und ohne diese beiden Frauen, Rektorin und Prorektorin, die immer für mich an die Ämter die notwendigen Befürwortungen geschrieben haben, wäre das alles nie gegangen mit meiner Ausbildung. Darf ich euch noch einschenken? Also, zu meiner Staatenlosigkeit, es ist etwas kompliziert, aber nicht unwichtig: Mein Vater war der Sohn meiner Großmutter und Deutscher. Meine Mutter wurde 1923 geboren, in Galizien, in der Nähe von Lemberg, als Polin. Das war ja bis 1918 habsburgisch, deshalb war ihr Vater Österreicher und bei der Österreichischen Reiterarmee. Er ist dann irgendwann nach Deutschland zum Arbeiten gegangen, mit seinen zwei Töchtern. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen, als sie 17 war. Dann wurde ich geboren, unehelich. Ein unehelich in Deutschland von einer Polin geborenes Kind galt als staatenlos. Das durfte eigentlich gar nicht existieren. Deshalb hat meine Oma mich aufgenommen und als ihr Kind ausgegeben, das war möglich in all dem Wirrwarr. Und ein Jahr später, nach der großen Bombardierung von Kassel, da galt meine Mutter als vermisst und totgeglaubt. Ihre Schwester war ja auch umgekommen. Dass meine Mutter überlebt hatte, das erfuhr ich erst mit 26 Jahren durchs Internationale Rote Kreuz, bei dem meine Mutter einen Suchantrag gestellt hatte nach dem Krieg - ihr könnt euch sicher erinnern, das wurde auch immer übers Radio durchgegeben, ich habe das auch oft angehört, all die Namen und kleinen Geschichten ' wird gesucht, zuletzt gesehen' Vom Roten Kreuz erfuhr ich, dass sie lebt. 1942 hatte sie geglaubt, dass wir alle tot sind. Es war ja die ganze Stadt fast zerstört, deshalb sind sie weggegangen, ihr Vater und sie. Zu Fuß über die Wälder und Berge, bis nach Galizien. Über ein Jahr waren sie unterwegs gewesen und immer unter Lebensgefahr. Meine Mutter konnte aber Deutsch, Polnisch und Russisch, so konnten sie sich den jeweiligen Soldaten gegenüber immer als Landsleute und Flüchtlinge ausgeben. Dann waren sie endlich zu Hause. Aber 1946 hat Stalin die gesamte polnische Bevölkerung aus Galizien rausgeworfen. Ihre Heimat wurde ukrainisch und sie wurden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten angesiedelt. Meine Mutter in der Nähe von Stettin, wo sie dann geheiratet und noch zwei Kinder bekommen hat. Von dem Mann, einem Kriegsversehrten, der Alkoholiker war und gewalttätig, hat sie sich dann getrennt. Das alles habe ich erst erfahren, als ich sie damals besuchte. Sie lebte allein mit den Kindern auf dem Land, als Schrankenwärterin in einem Schrankenwärterhaus, mit Gärtchen, Hund und Katze.
Das zu meiner Staatenlosigkeit. Großartige Frauen haben mich gerettet, geprägt, gefördert. Ganz besonders meine Großmutter. Wenn man sich das überlegt, sie hat zwei Weltkriege überstehen müssen mit allem, was dazugehörte. Und was war sie für eine mutige und lebenslustige Frau! Walzertanzen habe ich von ihr gelernt, sie war eigentlich immer fröhlich, bis der Großvater zurückkam aus dem Krieg. Das ist eine dramatische Geschichte. Der war als Minensucher eingesetzt an der Westfront und kam mit nur einem Bein und einem Auge wieder, war vollkommen traumatisiert! Mit dem konnte man eigentlich nicht mehr leben, es war schrecklich. Aber meine Großmutter blieb bei ihrem Mann, sie sagte immer: 'Wer aus dem Krieg zurückgekommen ist, ist kaputt. Das ist der Krieg! Ich habe einmal mein Wort gegeben und ich halte mein Wort.' Ich war froh, als ich dann wegging 1956 zum Haushaltsjahr. Und mein Vater war ja auch so ein kriegsbeschädigter Mensch. Mit 17, 18 ist er eingezogen worden und nach wenigen Wochen in französische Gefangenschaft gekommen. Die Franzosen haben - das wäre vielleicht auch mal eine Recherche wert - junge Kriegsgefangene betrunken gemacht und sie unterschreiben lassen, dass sie sich für fünf Jahre für die Fremdenlegion verpflichten. Er kam nach Indochina, nach Vietnam. 1950 ist er mit starker Malaria zurückgekommen, vollkommen verändert. Er hat sich in ein geordnetes Leben nie mehr einfügen können, hat in Dortmund im Rotlichtmilieu gearbeitet. Sie nannten ihn 'Fernandel', weil er so aussah wie dieser französische Schauspieler. Er hatte keinen Führerschein, fuhr aber Auto. Er hat gesagt: 'Ich hab einen Panzer gefahren, und die wollen für so ein Auto einen Führerschein, sind die verrückt?!' Er hatte nur Schwierigkeiten und ist sehr früh gestorben. Mit 50, an seiner Malaria."
Die füllt unsere Teegläser und fährt fort: "So ohne Eltern aufzuwachsen war für mich nicht einfach - trotz meiner Großmutter. Meine Heimat waren ihre Geschichten und später die Bücher. Als ich kein eigenes Zimmer hatte oder nur ganz schlechte Zimmer, bin ich immer in die Bibliotheken gegangen. Da waren sie freundlich, keiner hat mich gestört beim Lesen. Ich bin auch viel mit dem Rad herumgefahren. Einmal fuhr ich vom Ruhrgebiet nach Paris, das wollte ich unbedingt sehen, aber ich hatte ja kein Geld. Von Jugendherberge zu Jugendherberge fuhr ich. In Paris wurde mir das Rad dann geklaut, da musste ich per Anhalter zurück. 1961 bin ich nach Berlin getrampt, in den Osterferien. Nach langen Überprüfungen durfte ich einreisen mit meinem Nansen-Pass und bekam ein Transitvisum. Ich war drei Wochen in Berlin und habe in dieser Zeit mehr offene, anders lebende und anders denkende Leute kennengelernt als in all den Jahren im Ruhrgebiet. Und ich habe gehört, dass es ein Pestalozzi-Fröbel-Haus gibt, mit Ausbildung zum Erzieher. Ich bin da hin, habe mir einen Studienplatz besorgt und bin übergesiedelt nach Berlin. Fast die gesamte Ausbildungszeit über habe ich mit Amerikanern gewohnt gegen Babysitterdienste. Ich hatte ein schmales Zimmer, Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, Dusche auf dem Flur. Es war im Winter total überheizt. Wenn ich Babysitting hatte, durfte ich mich satt essen. Ich bekam wenig Ausbildungsbeihilfe und habe viel gejobbt, Zeitungen verkauft, Reklame eingelegt. Weihnachten habe ich Gläser gespült im Hilton. Dann habe ich mein Examen gemacht am Pestalozzi-Fröbel-Haus.
Und jetzt folgt ein Sprung in meiner Schilderung, es ist aber auch einer in meinem Leben. Ich habe schon immer sehr das Theater geliebt, war auch in Bochum im Theater. Das war ein fortschrittliches Theater. Das alles faszinierte mich sehr. Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Ausbildung zur Schauspielerin zu machen. Die habe ich sozusagen nebenher gemacht, Privatunterricht genommen, bei wunderbaren Lehrerinnen. Und daneben eben immer gearbeitet. Und 1965 habe ich dann vor der Deutschen Bühnengenossenschaft - mein Prüfer war Erwin Piscator - die Prüfung abgelegt. Das war ein wunderbarer Moment. 1966 habe ich meinen Sohn bekommen und geheiratet, damit der Sohn nicht auch staatenlos wird. Meiner Staatenlosigkeit war damit auch ein Ende gesetzt. Wir wollten uns gemeinsam um alles kümmern, es hat aber nicht hingehauen. Ich habe dann eine Weile am Theater gearbeitet, an der Schaubühne, bei den Wühlmäusen im politischen Kabarett, aber der Verdienst war sehr mager, ich bekam immer nur Stückverträge. 1967 war ich für drei Monate in New York mit meinem Sohn. Ich habe mir das LaMama-Theater angesehen, das ist das berühmte Experimentaltheater, Ellen Stewart hat es gegründet. Damals war sie etwa 50, eine fantastische Frau. Sie war ungeheuer freundlich, hat mich eingeladen, bei ihr zu wohnen mit dem Kind. Der Kleine war im Black-Panther-Kindergarten, und ich hätte ins Theater einsteigen können, aber ich habe mich irgendwie nicht getraut mit dem Kind. Man konnte da ja kein Geld verdienen. Alle Schauspieler haben gearbeitet, um Geld zu verdienen, das war geradezu das Credo, sie wollten ganz unabhängig sein. Da habe ich mir gesagt, Schluss damit! Ich habe ein Kind, ich gehe und studiere Sozialpädagogik in Berlin und mache was Sinnvolles. 1971 habe ich an der FHSS angefangen, neben dem Studium habe ich viel mit Kindern gearbeitet. Stegreiftheater gemacht. Habe Knastarbeit gemacht - schon 62 habe ich eine Theatergruppe im Jugendgefängnis gemacht - ich habe mich immer auch politisch sehr engagiert im Sozialbereich, war für die Veränderung der autoritären Heimstrukturen, gegen das Einsperren, ich war engagiert beim Erzieherstreik 69. Und an der Fachhochschule für Sozialarbeit war ich Studentenvertreterin, in freier, offener Wahl. Gelebt habe ich mit meinem Sohn in der Wohngemeinschaft. 1975 habe ich meinen Abschluss gemacht, und weil ich mein Kind gut versorgen wollte, bin ich dann in die Familienberatung vom Arbeitskreis 'Neue Erziehung' eingestiegen. Das ist ein freier Verband, 1946 von den Sozialdemokraten gegründet, zur Förderung einer demokratischen Erziehung. Nach fünf Jahren Familienberatung war ich dann aber so weit, dass ich aufstehen und weggehen musste, wenn sich irgendwo am Nachbartisch Leute gestritten haben. Dann habe ich meine Stelle geteilt, mit einem Kollegen, der vorher eine anarchistische Zeitung mitbegründet hatte, der deshalb damals keine Arbeit bekommen hätte. Das war die Zeit, wo die ganzen Überprüfungen stattgefunden haben gegen Radikale usw.
Das war nun sehr gut für mich. Ich konnte etwas Neues tun, um meinen Horizont zu erweitern. Ich hatte ja durch meine Ausbildung Hochschulzugang und habe dann an der Freien Universität studiert. An eine Universität wollte ich schon immer, als junges Mädchen bereits. Und nun hatte ich es geschafft und war da, wo er nie hingekommen ist, mein hoch geschätzter Maxim Gorki. 1980 habe ich angefangen. Ich bin zu den Philosophen gegangen, zu den Theaterwissenschaftlern und dachte, oh, sind die langweilig! Die wollten alle Lehrer werden, Schauspieler oder sonst was. Ich wollte nichts werden, ich wollte mich bilden. Und dann bin ich da hin, wo man das konnte, zu den Ethnologen. Und in den Vorlesungen des Religionswissenschaftlers Heinrich - also das ist Religionsphilosophie - da war ich auch, das war wunderbar! Das war meine Vorstellung von Universität. Bei den Ethnologen war ich sieben Jahre lang. Die waren in so einer kleinen Villa mit Garten und Kirschbaum. Ich habe mich beschäftigt mit den Mythen der Welt und mit dem Schamanentum sibirischer Völker, bei Ivan Korrt, das war ein Russe. Es war ein kleines Seminar, so 15 Leute, dominierend waren die Frauen. Ich habe sehr viel gelernt und auch verstanden. Und das war eigentlich meine Bildung. Meine Ausbildung war das andere: geprüfte Wirtschafterin, Kinderpflegerin, Erzieherin, Sozialpädagogin, alles mit Examen, mit Abschluss, mit Stempel. Sich zu bilden war wesentlich wohltuender, es ging reibungslos und war wirklich erfüllend. Wochenendseminare unterm Kirschbaum. Und ich habe dazu ganz viel Tee gekocht.
1984 bin ich dann zum ersten Mal nach Sibirien gefahren, mit Intourist und sieben Freunden. Wir sagten, wir sind interessiert an Volksliteratur, Märchen und Mythen der sibirischen Völker. Von Schamanen haben wir natürlich nichts gesagt, die wurden ja verfolgt von den Sowjets. Also wurden wir sehr unterstützt, bekamen einen guten Preis und sogar einen Dolmetscher. Drei Wochen waren wir unterwegs. In der Transsibirischen Eisenbahn habe ich abends immer die Märchen der Gegenden erzählt, durch die wir fuhren. Die Samowarfrau brachte Tee und setzte sich zu uns, obwohl das verboten war. Und ich habe erzählt an den Orten, die wir besucht haben. Später habe ich noch viele solcher Reisen gemacht, immer mit einer kleinen Gruppe märchenbegeisterter und kulturhistorisch interessierter Menschen: von Moskau an den Amur; entlang der Seidenstraße; nach Mesopotamien, ins heutige Syrien, den Irak - grade noch rechtzeitig vor dem Irakkrieg. Ich nannte diese Reisen 'Blaue Karawane', so heißen deshalb auch die Bücher. Unsere Kamele trugen sozusagen unseren Vorrat an Märchen, die ich unterwegs erzählt habe, immer an den Orten, mit denen sie verbunden sind. 2005 waren wir dann noch im Jemen.
Damals, 1984 nach der ersten Reise jedenfalls, da habe ich ganz klar erkannt, nicht nur Kinder - wie Bettelheim sagte - brauchen Märchen, auch Erwachsene brauchen Märchen! Bei den Ethnologen hatte ich gelernt, dass die Funktion von Schamanen oder Schamaninnen - meist waren es ja Frauen oder Zweigeschlechtliche - nicht nur darin bestand, den Kontakt zu den Ahnen herzustellen, zu heilen und die Gemeinschaft zu schützen, sie waren auch die lebendigen Bibliotheken ihres Volkes, die Chronisten, die Aufbewahrer. Und, was ein sehr wichtiger Aspekt ist, sie haben mit ihrem Erzählen den Winter, Schneestürme, Eiseskälte und bittere Not für eine Weile vergessen gemacht. Die Jakuten, ein kleines sibirisches Volk, haben zum Beispiel Erzählstoff für mindestens sieben Tage und Nächte. Das kam mir alles sehr bekannt und vertraut vor aus meiner Kindheit, als die Großmutter durchs Erzählen mich die Kälte und unsere Armut vergessen gemacht hat. Wie wohl mir das tat und wie sehr es mich stabilisiert hat in meinem Leben, das war mir bewusst. Ich kann das auch anderen vermitteln. Und so kam es, dass ich Märchenerzählerin wurde. Ich dachte, ich bin Schauspielerin, Sozialpädagogin und Ethnologin, ich habe all diese Kenntnisse und Erfahrungen. Ich will es auf dieser Basis entwickeln, das Erzählen von Märchen und Mythen für Erwachsene. Meine Erfahrung in der Familienberatung war, dass viele Familien - und besonders Mittelstandsfamilien - ein großes sprachliches Defizit haben. Und hier ist nicht Spracharmut, also ein kleiner Wortschatz, das Problem, hier besteht das Problem in einer Armut des Erzählens und des Zuhörens. Das ist einfach unter den Tisch gefallen im Laufe der Zeit. Aber es gibt dieses Bedürfnis danach, und das wird eben nicht gestillt durch die Unterhaltungsmedien. Ich habe dann in der 'Lernbrücke', das war eine Sprachschule, angefangen Märchen zu erzählen und habe anderen beigebracht, Märchen zu erzählen. 1985 habe ich mit diesem Märchenseminar begonnen, das über zwölf Jahre lang lief. Noch heute treffen wir uns, seit fast 23 Jahren, die alte Seminar- und Reisegruppe. Es sind 13 Frauen, die älteste ist inzwischen 82 Jahre. Ich habe Seminare an Volkshochschulen gemacht, Seminare für Lehrer gemacht, für Elternvereine, ich trage an Theatern vor und ich trage bei Veranstaltungen in den Museen vor, einmal sogar vor dem wunderbaren Ischtar-Tor im Pergamon-Museum. Und jetzt gerade, im November, habe ich im Rahmen der Berliner Märchentage vorgetragen und u. a. Sagen und Schamanengeschichten der Samen erzählt. Aber man bekommt natürlich nur sehr wenig Geld, oft gar keins. Ich habe mir gesagt, ich will das in bestimmten Fällen auch schenken, diesen Luxus erlaube ich mir. Beim LaMama-Theater hat mir das sehr gefallen, diese Einstellung, wir erwirtschaften unsere Existenzgrundlage anderswo und sind in der Kunst dafür ganz frei.
1985, als ich anfing, da gab es keine Märchenerzähler in diesem Sinn. Eine der letzten, die es gab, war die große Märchenerzählerin Deutschlands, Lisa Tetzner (1884-1963). Sie ist 1933 ins Exil gegangen, zusammen mit ihrem Mann Kurt Kläber (1897-1959), der unter dem Pseudonym Kurt Held die berühmte 'Rote Zora' geschrieben hat. Und, wenn ich die kleine Anmerkung machen darf, in ihrem Haus, das nach dem Tod eine Stiftung wurde und das in Corona im Tessin ist, durfte ich drei schöne und unbeschwerte Arbeitsaufenthalte verbringen. Aber zurück! Ich hatte 1985 großen Zulauf, habe meine ganz eigene Vortragsweise entwickelt und im Laufe der Jahre viele Märchenerzählerinnen ausgebildet, also auch Eltern und Pädagogen, die dann den Kindern erzählen. Ich hingegen erzähle nur für Erwachsene, mache also keine Märchenabende im herkömmlichen Sinn. Ursprünglich waren die Märchen ja für Erwachsene gedacht. Die edlen Demokraten Grimm haben ja zum ersten Mal Märchen für Kinder passend gemacht und allzu Grausames und auch die Erotik rausgenommen. Also ich erzähle für Erwachsene, aber ich erzähle nicht nur Märchen, ich erzähle auch über den Kulturkreis ihrer Herkunft. Bei allen Märchen, die ich erzähle, habe ich auch deren Herkunftsland bereist. Immer mit kleinen Gruppen, denen ich eine kundige Führerin und Erzählerin bin. Dafür habe ich die Reise und die Kosten frei. Die alten Handelsstraßen sind mein roter Faden: Sibirien ist die Pelzstraße, China die Seidenstraße. Erzähle ich sibirische Märchen, dann berichte ich über Sibirien und meine Reisen. Erzähle ich die Märchen der Seidenstraße, dann berichte ich von den Völkern der Seidenstraße und meinen Reisen entlang der Seidenstraße, von Zentralchina bis zur Levante, von Isfahan, von Schiraz, wo wir die Gräber der persischen Dichter Hafiz (1320-1398, Anm. G.G.), den Goethe so sehr schätzte, und Saadi (1189-1282, G.G.) besuchten und wo ich las und erzählte. Und ich berichte über unsere Reise auf der alten Handelsroute vom Libanon nach Mesopotamien. Zu Bagdad erzähle ich eine Geschichte aus der Zeit des Kalifen Harun ar Raschid. Und ich berichte von den südlich von Bagdad gelegenen babylonischen Städten Uruk und Ur. Zu Uruk, wo die sumerische Kultur entstand, wo Gilgamesch König war, da erzähle ich natürlich vom Gilgamesch-Epos. Und zu Ur, da berichte ich von Enheduanna, der ersten namentlich überlieferten Dichterin der Welt, sie lebte im 24. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Ihr zu Ehren trage ich ihre Hymnen an die Göttin Ianna vor.
Also ich schaffe so eine Verbindung zwischen dem Erzählen von Märchen und Mythen, ihrem Ursprung und ihrem Ursprungsland heute. Im Zentrum steht mein Erzählen, stehen meine Ausdrucksmittel, die Einbeziehung möglichst vieler Sinne. Es gibt immer Tee. Der Samowar ist mein bester Mitarbeiter! Ich bin festlich gekleidet, es gibt einen Leuchter, vielleicht einen Teppich, meinen Stuhl aus Damaskus. Ich forme mit meiner Stimme, mit meinem ganzen Körper die Erzählung, ich gehe herum oder ich sitze. Manchmal sitze ich aber auch einfach nur mit den Leuten zusammen an einem Tisch und erzähle. Man braucht ja eigentlich nichts weiter. Das ist ja das Gute! Und ich praktiziere natürlich freies Erzählen, im Unterschied zur Europäischen Märchengesellschaft, die auswendig Gelerntes vortragen lässt. Aber da sitzt sie leider einem Irrtum auf. Wortgetreue Wiedergabe gab es bei Epen und auch Mythen, besonders auch bei schriftlosen Völkern. Aber die Märchen wurden traditionell immer variiert und verändert. Im Kleide der Märchen wurden ja auch politische Botschaften versteckt und weitergetragen. Als guter Erzähler galt zum Beispiel in China, wer variantenreich erzählte. Pú Sung-ling, von dem ich vorhin kurz erzählt habe, der im 17. Jahrhundert in China der Beamtenlaufbahn entsagt hat und auf Märkten und in Teehäusern Geschichten sammelte und aufschrieb ("Merkwürdige Aufzeichnungen aus der Amtsstube Zukunft", Anm. G.G.), der hat die Erzähler auch immer in sein Haus eingeladen. Und vom Erzähler wurde nicht nur erwartet, dass er eine individuelle Fassung der Geschichte lebendig vortrug, sondern auch, dass er sie spontan improvisierend abwandeln konnte.
Und so halte ich es auch. Im Lauf der Jahre ist natürlich ein umfangreicher Fundus an Märchen, Mythen und Geschichten zusammengekommen. Sehr vieles kann ich auswendig. Orientalische Rezitatoren konnten 700 lange Gedichte aus dem Gedächtnis vortragen. So viel kann ich natürlich nicht auswendig. Aber dazu habe ich ja, wie die Tschuktschen es ausdrücken, diese kleinen, schwarzen Striche, in denen die Märchen versteckt werden können, in meinen Büchern und Texten dort im Regal."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht