■ Männerphantasien, Wissenschaft und die Atombombe: Mister O. gebiert einen Sohn
Das Wunder geschah in der Wüste. Irgendwo unter der glühenden Sonne von Neu-Mexiko. Ausgerechnet an jenem unwirtlichen Ort, da geschah es, daß ein Mann niederkam. Unter gewaltigen Anstrengungen gebar er einen Sohn.
Nein, allein war er nicht, der Mann. Seine Ehefrau jedoch hat ihm nicht beigestanden. Sie saß zu Hause. Wartend. Aufgeregt.
Vielleicht hat sie die innere Spannung dazu getrieben, immer wieder das Haus zu durchmessen. Zehn Schritte zum Telefon, fünf Schritte zum Fenster, ob vielleicht ein Bote käme, dann wieder zurück ins Wohnzimmer. Und irgendwann kam dann doch der Bote. Vielleicht fiel sie sogar schon fast aus der Tür, als er klingelte und das Telegramm überreichte, das sie mit fliegenden Händen erbrach. Es war die Nachricht mit den vereinbarten Worten. „Du kannst die Bettwäsche wechseln.“ Die blutige Bettwäsche wechseln. Das Baby war also lebendig!
Vielleicht hat die Frau aufgelacht, glücklich, stolz auf ihren Mann. Oh, Robert! Robert O. hat die Welt verändert, denn er, ein Mann, hat einen Sohn geboren.
Wie es ihm wohl dabei ergangen ist? Oh, gut, sehr gut. Er war ja nicht allein, er hatte viele gute Freunde um sich. Echte Männer. Die sich fürsorglich um alles kümmerten. Die in dieser schweren Stunde fest mit ihm zusammenhielten. Die sich wahrscheinlich nur kleine Schwächen gönnten: flatternde Augenlider. Schweiß auf der Stirn. Herzklopfen.
Und dann kam der grandiose Augenblick, auf den sie alle hingelebt hatten. Zerrissen zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit, Angst und Mut, ob diese Revolution der Natur denn wirklich gelingen sollte. Hier und jetzt, unter der erbarmungslosen Sonne von Neu-Mexiko.
Einer von ihnen wird diese alles entscheidenden Minuten für die Nachwelt festhalten: „Dr. O.s Spannung nahm zuletzt immer mehr zu. Er atmete kaum noch. Er hielt sich an einem Pfosten fest. In den letzten Sekunden starrte er nach vorne, und dann, als die Lautsprecherstimme ,Jetzt!‘ rief und ein ungeheurer Lichtblitz erschien und unmittelbar danach der dunkel rollende Donner der Explosion, da entspannte er sich, und auf sein Gesicht trat ein Ausdruck großer Erleichterung.“ Das Kind, schrieb der Freund, „ist fast ausgewachsen zur Welt gekommen“.
Auch ein Reporter war zugegen. Später beschrieb er, wie die Männerrunde die entscheidenden Minuten erlebte: „Das Toben erreichte uns etwa hundert Sekunden nach dem großen Blitz – der erste Schrei einer neugeborenen Welt. Er brachte Leben in die stummen, bewegungslosen Schatten und gab ihnen eine Stimme. Ein lauter Aufschrei erfüllte die Luft. Die kleinen Gruppen, die bis dahin angewurzelt dagestanden hatten, wie Wüstenpflanzen in der Erde, brachen in einen Tanz aus – der Rhythmus des Primitiven, der an einem seiner Feuerfeste zu Ehren des anbrechenden Frühlings tanzt. Sie klatschten in die Hände, als sie in die Luft sprangen – der erdgebundene Mensch, der die Geburt einer neuen Kraft symbolisiert.“ Die Nachricht von der Mannesgeburt wurde jedoch zunächst geheimgehalten. Äußerst geheim. Allerhöchster Geheimhaltungsgrad. Bis schließlich der US-Verteidigungsminister Henry Stimson, gerade auf der Potsdamer Konferenz weilend, folgendes Telegramm in den Händen hielt: „Doktor soeben zurückgekehrt. Äußerst zufrieden. Meint, der Kleine sei bestimmt ebenso kräftig wie sein großer Bruder. Das Leuchten in seinen Augen sei weithin zu sehen und sein Geschrei bis zu meinem Gehöft zu hören gewesen.“
Vielleicht hat der Verteidigungsminister ebenso gestrahlt wie Mrs. O. Vielleicht war es die Freude in seinen Augen, vielleicht genügte der Text allein, jedenfalls sollen die Offiziere als Überbringer der Nachricht aufs allerherzlichste zur Vaterschaft gratuliert haben. Eine stolze Leistung, Mr. Stimson. Immerhin sind Sie schon siebenundsiebzig. Den Verteidigungsminister erregte die „welterschütternde Nachricht“ so, daß er dem Briten Sir Winston Churchill einen Zettel mit drei Worten hinschob: „Babies satisfactorily born“. Einen ausführlichen Geburtsbericht bekam Churchill erst am nächsten Tag zu lesen. Das sei, entfuhr es ihm nach der Lektüre, „die Wiederkunft Christi am Tage des Jüngsten Gerichts“.
Am 26. Juli 1945, zehn Tage nach dem später als „Trinity“ bekanntgewordenen Ereignis – Vater, Sohn und Heiliger Geist hatten zusammen ein neues Weltwunder bewirkt –, forderten die Amerikaner Japan auf, bedingungslos zu kapitulieren. Am 28. Juli wiesen diese das Ultimatum zurück. Am 6. August flog eine umgebaute amerikanische B-29, nach der Mutter des Piloten Enola Gay benannt, Richtung Hiroshima. Aus ihrem Bauch entsprang erneut ein Baby, „little boy“ genannt.
Dies hörend, betrat Dr. Robert O. die Halle von Los Alamos in der Wüste von Neu-Mexiko. „Jubel, Rufe und Applaus ertönten, als er durch die Halle ging, und er nahm die Huldigungen nach Boxermanier entgegen – die über dem Kopf verschränkten Hände schüttelnd.“
Am 9. August flogen die Bomberpiloten erneut los. Aus dem Bauch der Maschine entsprang über Nagasaki diesmal schon ein ausgewachsener Mann, „fat man“. Wenn die Bomben zu Blindgängern, zu Versagern geworden wären, verieten die Forscher später, dann wären sie zum Mädchen getauft worden. Der Reporter William Laurence, der schon den Trinity-Test in der Wüste miterlebt hatte, war bezaubert von dem Anblick, wie in diesem Moment „ein lebendes Wesen von so vollkommener Form entstand, daß jeder Bildhauer stolz gewesen wäre, es geschaffen zu haben“. Fünfundvierzig Sekunden nach dem Abwurf verwandelte sich „fat man“ in eine riesige Feuersäule: „Vor Schrecken erstarrt sahen wir, wie sie wie ein Meteor aus der Erde statt aus dem Weltraum emporstieg und im Emporsteigen durch die weißen Wolken immer lebendiger wurde. Es war ein lebendes Ding, eine neue Art Lebewesen, das dort gerade vor unseren ungläubigen Augen geboren wurde.“
In den USA wurde der Physiker Dr. J. Robert Oppenheimer als „Vater der Atombombe“ gefeiert, und die National Baby Institution ernannte ihn zum „Vater des Jahres“.
Frau Oppenheimer hat ihrem Mann, soweit bekannt, niemals „Gebärneid“ vorgeworfen. Ute Scheub
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