Macrons Rentenreform : Einer wagt Zukunftspolitik
Seine Gegner werfen ihm autoritäres Gehabe vor, doch Frankreichs Präsident Macron tut das Vernünftige.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 28.03.2023 | Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat seine Rentenreform mittels des Artikels 49.3 der französischen Verfassung zum Gesetz erhoben. Nach diesem Artikel können der Präsident und die Regierung Gesetze auch ohne Abstimmung im Parlament beschließen. Das hat in Paris zu brennenden Barrikaden der Protestierenden geführt. Seine Gegner werfen ihm autoritäres Gehabe und notorische Dialogunfähigkeit vor.
Macrons Entscheidung, seine präsidiale Macht zu nutzen, um mit seiner Rentenreform die soziale Sicherheit der nächsten Rentner-Kohorten zu garantieren, ist aber weder inhaltlich willkürlich, noch feudales Alleinherrscher-Gehabe. Macrons Rentenreform ist eine kluge, ausgewogene, aber möglicherweise noch nicht ausreichende Reaktion auf die sich wandelnde demographische Zusammensetzung der französischen Bevölkerung. Wenn die Renten auf dem aktuellen Niveau längerfristig gesichert werden sollen, verlangt diese Entwicklung von allen Franzosen längere Lebensarbeitszeiten. Das ist Sinn und Zweck der Erhöhung des Renteneintrittsalters von heute 62 auf dann 64 Jahre.
Wie überall in Europa geht auch in Frankreich die Geburtenrate kontinuierlich zurück, ungeachtet der multikulturellen Zusammensetzung der Gesellschaft. Auch die französischen Frauen wissen, dass mit mehreren Kindern befriedigende und herausfordernde berufliche Perspektiven jenseits der familiären Care-Arbeit für sie nur sehr schwer realisierbar sind. Das gilt trotz der im Vergleich zur Bundesrepublik viel umfassenderen staatlichen Kinderbetreuung vom Kindergarten bis zum Universitätseintritt. Doch Frauen werden auch in Frankreich im Arbeitsmarkt dringend gebraucht, denn auch hier ist der Facharbeitermangel eine endemische Plage für die gesamte Wirtschaft. Die frühe Verrentung verschärft dieses Problem. Schon heute steht nur noch jeder dritte Franzose im Alter von 60 bis 64 Jahren dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Würde es bei der Praxis der Verrentung mit 62 bleiben, dann müsste das wachsende Defizit in der Rentenversicherung aus dem Staatshaushalt finanziert werden: Dafür wären dann Steuererhöhungen unvermeidbar und zugleich müsste die Rentenhöhe je nach Kassenlage abgesenkt werden. Und das völlig unabhängig davon, welche Partei oder politische Richtung regiert.
Macrons Rentengesetz enthält eine zusätzliche soziale Komponente. Auch diejenigen Arbeitnehmer werden abgesichert, die es nicht schaffen, bis zu ihrem 67. Lebensjahr die für den vollen Rentenbezug notwendigen 43 Beitragsjahre zu arbeiten. Sie können zwar dann erst mit 67 in Rente gehen, erhalten dafür dann ohne die sonst notwendigen Renten-Anwartschaften die 1.200 Euro Mindestrente.
Mit diesem allein der Realpolitik verpflichteten Rentengesetz und seiner Durchsetzung gegen alle Widerstände hat der Präsident die französische Politik zumindest für einen Augenblick aus den Umklammerungen von wirklichkeitsverweigernden Ideologemen herausgerissen. Macron demonstriert mit seinem Vorgehen, dass für ihn Politik kein Handlungsfeld zur Durchsetzung von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ist, die jenseits der Lösung der aktuellen Problemlagen aller Bürger liegen.
Populisten instrumentalisieren Zukunftsängste der Menschen
Die Gewerkschaften, die rechten Populisten, angeführt von Marine Le Pen, und die linken Populisten, angeführt von Jean-Luc Mélenchon, inszenieren gegen die Rentenreform auf den Straßen ihren Systemkampf zur Destabilisierung der politischen Strukturen, wie schon vor zwei Jahren mit dem Kampf der Gelbwesten gegen die höheren Diesel- und Kraftstoffpreise.
Sie instrumentalisieren brennende Barrikaden, die Erstürmung von Rathäusern, den Gebrauch von Molotowcocktails und Steinen gegen Polizei und Staatsgewalt, ungezügelte Jugendgewalt und das willkürliche Lahmlegen der gesamten gesellschaftlichen Infrastrukturen für ihre politischen Ziele. Diese haben mit der dringend notwendigen Lösung der Rentenprobleme aber rein gar nichts zu tun.
Die früheren Volkparteien, Sozialisten und die CDU-ähnlichen Les Républicains überlassen ihnen den öffentlichen politischen Raum und spielen selbst machtpolitisch mit dem Populismus, statt mit eigenen Ideen und Vorschlägen grundsätzlich die von Macron akzeptierte Notwendigkeit einer Reform zu unterstützen.
Der Präsident hat in dieser Situation gar keine andere Option mehr, als diese systemische Machtprobe anzunehmen. Er muss mit den Mitteln des ihm legitim zustehenden Gewaltmonopols die Provokationen der Querfront von Gewerkschaften, Le Pen und Mélenchon zurückweisen, um Ruhe, Ordnung und die Rückkehr zu regelgebundener Politik jenseits der Straßenschlachten wiederherzustellen.
Das Beunruhigende an den aktuellen Auseinandersetzungen in Frankreich ist, wie leicht sich Unsicherheiten und berechtigte Zukunftsängste der Leute instrumentalisieren lassen, um Elitenhass zu wecken und sie in Kämpfe zu treiben, die sie am Ende ihre sozialen Sicherheiten und liberalen Freiheitsrechte kosten könnten. Da helfen auch die Hinweise auf die revolutionaristischen Traditionen der französischen Geschichte seit 1789 nicht weiter, und auch nicht der gern genommene Verweis auf die Fähigkeit der Franzosen, das Leben zu genießen statt es sich – wie die Deutschen – mit zu vielem und zu langem Arbeiten zu versauen.
Macrons Politik der sozialen Zukunftssicherung, die ihre staatlichen Herrschaftsmittel mutig einsetzt, kann als Blaupause für die politischen Auseinandersetzung mit den populistischen Rattenfängern in allen europäischen Demokratien gesehen werden. Demokratien sind keine Vergnügungsparks für das Ausleben populistischen Unfugs. Sie leben allein von ihrer Kraft, dem Vernünftigen – gegen die Emotionen des Moments – Schneisen in eine lebenswerte Zukunft zu öffnen. Anders als viele andere Regierende in den westlichen Demokratien hat Emmanuel Macron das nicht nur begriffen, er ist offenbar auch bereit, die unvermeidbaren Notwendigkeiten gegen den auf die Straßen getragenen Massenkrawall durchsetzen.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.