: Macht es wie die Seehunde
Anna Weidenholzers Figuren sind reich an Eigenheiten. Worauf zielt ihr melancholischer Humor im Erzählungsband „Hier treibt mein Kartoffelherz“?
Von Michael Wolf
In der Literatur wimmelt es von Sonderlingen. Angefangen mit den antiken Helden über all die Don Quijotes und Doktor Frankensteins hin zu den mal ganz offen unzuverlässigen, mal verdächtig geschwätzigen Erzählern der Gegenwart versammelt die Prosa eine Meute an Spinnern, an seelisch Versehrten und narrativen Hochstaplern. Man könnte meinen, Bibliotheken wären eigentlich Verwahranstalten für sozialgefährdende Gestalten. So heißt es dann auch oft, in der Literatur gehe es darum, andere Ansichten auszuhalten und Fremdes zu erkunden. Lesen bilde mithin ähnlich dem Reisen, indem es den Kontakt mit dem Unbekannten trainiere.
In Anna Weidenholzers Prosaband „Hier treibt mein Kartoffelherz“ gibt es viele Gelegenheiten zu solchen Lektionen, sind hier doch jede Menge seltsame Menschen anzutreffen, ja, viele scheinen sogar allein aus dieser ihrer Seltsamkeit zu bestehen. Nehmen wir etwa den Mann von Seite 58, der unter der Überschrift „Möglichkeiten der Zeitgestaltung“ das leere Restaurant eines Hotels betritt und auf allen Karten mit der Aufschrift „Weine“ ein „nicht“ ergänzt, womit die Geschichte dann auch schon endet. Ist diese Figur mehr als der Träger eines netten Witzes? Oder anders gefragt: Ist sie noch etwas, das über ihre Skurrilität hinausgeht?
Und wie verhält es sich mit dem Herrn, der glaubt, seinen wiedergeborenen Vater in einem Karussellpony namens Waltraud zu erkennen? Wie mit der Frau, deren Faszination für Beinhäuser sie veranlasst, Friseurin zu werden? Wie mit der Schriftstellerin, die sich weigert, ihr Aufenthaltsstipendium zu beenden und die Tür absperrt, vor der sich bald die halbe Dorfgemeinschaft versammelt, um sie rauszuschmeißen?
Man fühlt sich bei der Lektüre der nach den Jahreszeiten in vier Zyklen dargereichten Erzählungen ein wenig an Clemens J. Setz erinnert, diesen großen Erfinder sonderbarer Figuren, mit dem Unterschied, dass bei Setz auch die Sprache verrückt spielt, dass er die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeit auf frivole Weise ausweitet. Dagegen ist Weidenholzers Stil eher unauffällig und zielt weitaus bescheidener auf einen melancholischen Humor, der mitunter dann ins Betuliche kippt.
Dieser Hang zur Drolligkeit steht der Agenda der 1984 in Linz geborenen Autorin indes nicht im Weg. Es geht ihr um die Unwahrscheinlichkeit eines Kontakts zwischen Menschen, um eine kleine Phänomenologie der Begegnung. Hier gibt es tatsächlich einiges zu entdecken, vor allem in jenen Passagen, in denen zwei Figuren sich zufällig treffen und etwas im anderen zu erkennen glauben, das mit ihnen selbst zu tun hat.
Da wäre die Frau, die im Freibad Bäume umarmt und die Ämter terrorisiert, weil sie unbedingt möchte, dass das Alter ihrer liebsten Rosskastanie im Katasteramt verzeichnet wird. Völlig gefangen von ihrer ganz persönlichen Disposition hält sie vor einem Mann ungefragt ein Impulsreferat über die Beziehung von Baum und Mensch, obwohl der arme Kerl nur zum Austreten die Nähe der Kastanie suchte. Natürlich, man kennt solche anspruchsvollen Persönlichkeiten von Begegnungen zum Beispiel in der U-Bahn, aber Weidenholzer überlässt sie nicht der eigenen Pathologie, lässt sie nicht voreilig verrückt erscheinen.
Nicht eigentlich gestört, sondern verengt ist die Sicht der Figuren auf die Wirklichkeit. Was ist wohl mit ihnen geschehen, dass sie so sind? Man erfährt es nicht, es gelten recht streng die Regeln der Kurzprosa, und die verbieten allzu viel Vorgeschichte. Ersichtlich ist, dass die Figuren nur sehen, was sie sehen können, bleischwere Erlebnisse dürften ihren Geist in Form gepresst haben, und nun muss alles Äußere, muss alle Welt durch diesen Schlitz, damit sie sie anerkennen.
Mit anderen Worten: Ganz normale Leute sind das, mit den üblichen Schrullen, die man eben so hat, wenn man schon ein bisschen länger herumgelebt hat und jetzt meint, endlich Bescheid zu wissen. Ganz normale Leute, nur ein bisschen gesteigert in ihren Idiosynkrasien, gewissermaßen charakterlich getunt, damit sie als Vorzeigemodelle herhalten können, damit man das Menschliche an ihnen genauer beobachten kann. Auf der Straße, im Freibad, im Altenheim treffen sie alle aufeinander: die Einsamen und die Träumer, die Albernen und die Traurigen, die Pedanten und die Neurotiker.
Und so guckt man ihnen dann lesend dabei zu, wie sie versuchen, einander von ihrer je eigenen Weltsicht zu überzeugen, wie die eine der anderen nahelegt, es wie die Seehunde zu machen, wie sich eine an den Verlusten des anderen labt, wie einer nur noch über Klagen und Anklagen kommuniziert. Warum das Ganze? Weidenholzers kleine Geschichten sind unaufdringliche Angebote, aus der Eigenartigkeit dieser Figuren etwas über sich selbst zu erfahren. Und sei es, dass man den Schluss zieht, durchaus noch ein bisschen seltsamer, noch ein bisschen mehr man selbst werden zu können.
Anna Weidenholzer: „Hier treibt mein Kartoffelherz. Erzählungen“. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2025, 155 Seiten, 22 Euro
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