piwik no script img

MULTIPOLARE WELTAbschied von der Supermacht

Mit dem Verschwinden der Rivalität der Supermächte verschwindet auch die Kategorie der „Supermacht“ selbst. Der militärischen Macht der USA steht ihre wirtschaftliche und technologische Schwäche gegenüber – während genau hier die Stärken ihrer neuen Rivalen liegen. Japan jedoch wird auch in Zukunft keine weltpolitische Rolle spielen, die seiner Wirtschaftsmacht entspricht. Und daß Europa zu einer gemeinsamen Geopolitik fähig sein wird, ist mit der Vereinigung Deutschlands und den Umbrüchen in Osteurpa ehnwahrscheinlicher geworden. Eine multipolare Welt ohne Supermächte, aber auch ohne Großmächte traditionellen Typs zeichnet sich ab.  ■ VON WILLIAM PFAFF

Eine „Großmacht“ war in der Vergangenheit eine unverwundbare Macht. Der Begriff „Supermacht“ entstand, als Atomwaffen die Idee der Unverwundbarkeit widerlegten. Supermacht ist nicht nur eine größere Großmacht. Sie hat eine andere Qualität. Ihre besonderen Kennzeichen sind ein gewaltiges Atomwaffenarsenal und der Anspruch, ein Modell für die Zukunft der Menschheit darzustellen. Andere Nationen – Großbritannien und Frankreich – verfügten auch über Atomwaffen und überflügelten als Wirtschaftsmächte in den 60er Jahren eine in Autarkie erstarrte Sowjetunion. Und doch hatten sie nicht den Status einer Supermacht. Sie erhoben sich nicht in den Rang eines Gesellschaftsmodells mit globaler Mission. Die industrielle Entwicklung der Sowjetunion war nie auch nur entfernt vergleichbar mit der der USA. Dennoch akzeptierten amerikanische und andere westliche Experten den sowjetischen Anspruch industrieller Ebenbürtigkeit (und sogar bevorstehender Überlegenheit, daß die UdSSR die USA „einholen und überholen“ könnte). Denn ihr Status als Atommacht, ihr ideologischer Anspruch, ihr politischer Einfluß und ihre Vormachtstellung in Osteuropa ließen es ganz logisch erscheinen, entsprechende wirtschaftliche und industrielle Macht – oder das Potential dazu – anzunehmen.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems 1989 und 1990 wurde beschleunigt durch den wirtschaftlichen Mißerfolg. Vor allem aber war es der Zusammenbruch einer Ideologie. Ein so vollkommener Zusammenbruch, daß es rückblickend schwer fällt, sich vorzustellen, wie bedrohlich während der 70 Jahre von Lenin bis Gorbatschow die kommunistische Herausforderung empfunden wurde; wie sehr sie die Vorstellungskraft des Westens beherrschte; wie sehr ihr Anspruch, die einzig wahre und wissenschaftliche Interpretation von Geschichte und Revolution zu haben, die Nationalisten der ehemaligen Kolonien prägte. Der amerikanische Gegenanspruch, den von der Aufklärung versprochenen „Novus Ordo Saeculorum“ zu verkörpern, rief niemals eine ähnliche Reaktion hervor.

Der Zusammenbruch des Kommunismus veränderte überraschend die internationale Ordnung: Mit dem Verschwinden der Rivalität der Supermächte verschwindet auch die Kategorie der „Supermacht“ selbst, denn sie gründete auf eben dieser Rivalität.

Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor die größte Militärmacht der Welt. Doch ihre Prosperität und das Wohlergehen ihrer Bevölkerung werden nunmehr am traditionellen Maß einer nationalen Macht gemessen; die Resultate sind mittelmäßig, bei sinkender Tendenz. Die Stärke und Reichweite der Armee wurde auf dramatische Weise im August und September 1990 demonstriert. Doch gerade die Größe des Aufmarschs zeigt das Mißverhältnis, in dem die militärische Macht zu den tatsächlichen Bedrohungen der Sicherheit der USA stehen. Was die Sowjetunion anbelangt, befindet sie sich im Zustand der wirtschaftlichen und politischen Auflösung; und ist damit möglicherweise um so gefährlicher, denn ihr verbleiben nur noch die Atomwaffen.

Die Vereinigten Staaten sind derzeit von ausländischen Gläubigern abhängig, und ihre Handlungsautonomie ist dementsprechend eingeschränkt. Bei dem militärischen Aufmarsch im Golf bestanden die USA darauf, daß andere Länder dafür zahlen – eine Forderung, die die USA in der Vergangenheit nie erhoben hätten. Stillschweigend gaben sie damit ihren Status als Supermacht auf.

Der relative Niedergang der amerikanischen Wirtschaft und Technologie ist durchaus nicht irreversibel, aber er ist Gegenstand einer besorgten Debatte in den USA. Die Amerikaner sind es jedoch gewohnt, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Dennoch liegt die Stärke der Vereinigten Staaten heute in einer Macht, die bedeutsam war für die – nun verschwindende – militärische Rivalität der Supermächte; und sie sind relativ schwach in anderen Bereichen, in denen ihre großen neuen Konkurrenten Japan und Europa stark sind. Den USA fehlt die wirtschaftliche Autonomie und Dynamik und damit die Handlungsfreiheit, über die Japan und die Länder der EG verfügen. Das beachtliche Widerstreben Tokios, das Budgetdefizit der USA Ende 1990 zu finanzieren, ist eine viel größere Bedrohung der Sicherheit und des Lebensstandards der Amerikaner, als es die Sowjetunion im vergangenen Jahrzehnt dargestellt hat, sieht man von dem Szenario einer atomaren Apokalypse ab.

Die wesentlichste Folge der veränderten internationalen Ordnung ist der Niedergang der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Strukturen, die während der 45 Nachkriegsjahre internationale Stabilität und (relativen) Frieden zwischen den Großmächten garantierten.

Womit diese Strukturen ersetzt werden können – oder was aus ihrem Verlust folgt –, hängt von drei Unbekannten ab. Erstens: Was sind die Auswirkungen des gegenwärtigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auseinanderfallens der Sowjetunion? Zweitens: Wird es den Vereinigten Staaten gelingen, ihren derzeitigen wirtschaftlichen Niedergang und das politische Patt zu überwinden und ihre sozialen Probleme in den Griff zu bekommen? Drittens: Was passiert in Europa, in der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere in Deutschland? Welche Beziehungen wird Deutschland mit den anderen Ländern Westeuropas haben, welche mit der Nachfolgemacht – oder den Nachfolgemächten – der Sowjetunion? Dazu erhöht sich der demographische Druck auf die privilegierten Staaten: durch die Zuwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa, aus Lateinamerika und Asien nach Nordamerika.

Der militärische Vorsprung der Industrieländer nimmt in dem Maße ab, in dem Entwicklungsländer wie Irak, Iran, Indien oder Pakistan Zugang zu Massenvernichtungswaffen erhalten.

Dagegen beschleunigt sich der wirtschaftliche Vorsprung der Industrienationen, indem der Handel unter den technisch und industriell fortgeschrittenen Ländern seine Dynamik beschleunigt und die Abhängigkeit von Rohstoffen mindert. In dieser Hinsicht täuscht die Golfkrise. Die Tatsache, daß der Irak die Öllieferungen aus dem Golf beherrscht, hätte langfristig keine wirkliche Bedrohung für die Industrieländer bedeutet; denn der Zwang für den Irak, sein Öl zu verkaufen, ist größer als die Notwendigkeit der Industrieländer, es zu kaufen. Und der Preis wird ohnehin durch Kräfte bestimmt, die jenseits der Kontrolle des Anbieters liegen.

Der gewöhnlich aus all dem gezogene Schluß ist, daß sich die Welt wieder zu einem Pluralismus der Mächte hin entwickelt, in eine geopolitisch multipolare Situation, wo es keine dominierende Nation gibt. Die Europäische Gemeinschaft ist der bedeutendste Wirtschafts- und Industrieblock. Sie hat im Prinzip das Potential, sich zu einer politischen Hauptmacht zu entwickeln, vielleicht sogar dank ihres politischen Talents, ihrer Intelligenz und wirtschaftlichen Stärke die führende Rolle einzunehmen. Es ist aber zu bezweifeln, ob sie das in absehbarer Zeit auch will. Es ist fraglich, ob ein „Europa“ wirklich fähig sein wird, eine gemeinsame geopolitische Strategie zu entwerfen. Die Vereinigung Deutschlands und die Integration Osteuropas und des Balkans lassen dies zunehmend unwahrscheinlich erscheinen.

Japan hat keine weltpolitischen Ambitionen; zudem wäre wohl die Singularität und historische Isoliertheit seiner Zivilisation dabei hinderlich. Darüber hinaus sind die in Asien als Folge des Zweiten Weltkriegs fortbestehenden anti-japanischen Ressentiments und die in jüngster Zeit durch die japanischen Handelspraktiken entfachten Feindseligkeiten Hindernisse für eine weltpolitische Rolle Japans, die seiner Wirtschaftskraft angemessen ist.

Für einige Amerikaner ist die Golfkrise der Modellfall einer neuen Politik der Vereinigten Staaten, die in globalem Aktivismus für die Demokratie und gegen jedwede Aggression interveniert, sei es im Alleingang oder an der Spitze einer internationalen Allianz. Doch ist diese Vorstellung nicht jedermanns Sache, nicht in den USA und schon gar nicht anderswo.

Die Aussicht besteht demnach nicht in einer Welt mit nur noch einer Supermacht, sondern in einer, in der selbst Großmächte traditionellen Typs fehlen. Kein Land ist unverwundbar. Japan insbesondere ist verwundbar durch Veränderungen in der Weltwirtschaft, durch Protektionismus und Handelskriege. Europa hat hier den Vorteil, daß sein Handel vorwiegend innerhalb der eigenen Grenzen abläuft.

Die gegenwärtige Verwundbarkeit der USA und der UdSSR im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich könnte langfristig (sehr langfristig für die USA) auch zu militärischer Verwundbarkeit führen. Die militärische Unterlegenheit der meisten europäischen Staaten und Japans ist ein durchaus umkehrbares Phänomen; sie alle waren bereits einmal militärische Großmächte.

Die beispiellose internationale Zusammenarbeit angesichts der Golfkrise berechtigt zu der Hoffnung, daß in Zukunft gemeinsames Handeln und Einigkeit geopolitische Rivalitäten und Konflikte reduzieren werden. Die Veränderungen im Charakter und der Verteilung der bedeutenden Militärmächte und das drastische Wohlstandsgefälle zwischen „Nord“ und „Süd“ deuten auf eine zunehmend konfliktreiche und anarchische Weltordnung hin. Welche Strömung wird sich durchsetzen? Die Geschichte lehrt uns Pessimismus; aber auch, daß positive Veränderungen immer nur aus Rivalitäten und Konflikten entstanden sind.

William Pfaff ist US-amerikanischer Schriftsteller und renommierter Kommentator des Los Angeles Times Syndicate.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen