MORGENDLICHER GRUSS : Dastehen
Gestern stand er wieder da. Ich hatte ihn fast vermisst. Er gehört hier praktisch zum Inventar.
„Morgen.“ Anfangs war ich leicht verunsichert, wenn er grüßte. Er tut es mit großer Selbstverständlichkeit, fast kollegial. Dabei kennen wir uns gar nicht. Aber er grüßt ja alle.
Er steht in der Fußgängerzone – vor dem Asia-Imbiss oder am U-Bahn-Eingang, meist im rechten Winkel zur Bewegung der Menschen, die vorbeihasten. Sehr auffällig ist er nicht: hochgewachsen, schlank, saubere Kleidung, kurzes Haar. Nur die Nase fällt aus dem Rahmen, weil sie groß ist und etwas grob, als hätte jemand ein Gesicht aus geometrischen Figuren geformt und ein Dreieck an ein hochkant stehendes Rechteck gelegt.
Wer ihn nicht kennt, könnte meinen, er stehe quasi beruflich da. Es wirkt, als weise er gleich einen Lieferwagen ein oder werde mit seinem Mitarbeiter, der im nächsten Moment auftaucht, irgendein Schild anschrauben. Aber das täuscht. Er steht einfach nur da und sagt „Morgen“, und sein Blick streift kurz den Blick der Passanten. Etwas anderes sagt er nie. Zumindest habe ich ihn noch nie etwas anderes sagen gehört. Einmal habe ich überlegt, ob ich ihn ansprechen soll. Aber ich musste weiter.
Ich kann nicht vermeiden, jedes Mal, wenn ich ihn sehe, an die Beatles zu denken und den Mann auf dem Hügel, der zuschaut, wie die Welt sich dreht. So macht er es auch. Auf einer Fotografie mit extrem langer Belichtung wäre er scharf abgebildet und wir anderen nur verwischte Farbtupfer. Jedes Mal denke ich auch, dass ich gern wüsste, ob das, was er da tut, ein erfülltes Dasein ist. Gut möglich, dass er sich bei meinem Anblick dasselbe fragt. CLAUDIUS PRÖSSER