MONTAGSINTERVIEW: "Ich dachte: Jetzt bin ich zu Hause"
Dagmar Yu-Dembski erforscht chinesische Spuren in der Geschichte Berlins. Ihr eigener Vater kam 1936 in die Stadt.
taz: Frau Yu-Dembski, Sie haben sich systematisch mit den Chinesen in Deutschland beschäftig und das Buch „Chinesen in Berlin“ veröffentlicht. Wann kamen denn die ersten Chinesen nach Berlin?
Dagmar Yu-Dembski: Das war 1823. Es waren zwei, sie hießen Yasheng Feng und Yaxue Feng. Es gibt Aufzeichnungen darüber von Heinrich Heine, der einem Freund schrieb, dass zwei Chinesen in einer Art Theater in der Stadt ausgestellt würden. So wie heute im Zoo, wo Tiere ausgestellt werden, die man sonst nicht sehen kann, gab es ja früher Menschen- oder Völkerschauen. Einer der beiden ist dann hier geblieben und hat in Potsdam ein Haus gebaut. Yasheng war sein Vorname – daraus wurde aber später der Familienname „Assing“. So würde man nie auf die Idee kommen, dass es da mal chinesische Vorfahren gab.
Auch Ihr Vater war Chinese, er kam 1936 als Student nach Deutschland. Später studierte er in Berlin Ingenieurswissenschaften. Warum eigentlich?
Die Frau: Dagmar Yu-Dembski wird 1943 als Tochter eines Chinesen und einer Deutschen geboren. Sie studiert Publizistik, Kunstgeschichte und Sinologie an der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Rolle der Frauen in den Medien, bis sie anfängt, sich verstärkt mit China und interkultureller Kommunikation zu beschäftigen. Yu-Dembski lebt mit ihrem Mann in Berlin.
Die Forscherin: Yu-Dembski hat sich mit der Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, der Perzeption Chinas in der Reiseliteratur, den chinesischen Intellektuellen in Deutschland und chinesisch-deutschen Ehen wissenschaftlich auseinandergesetzt.
Die Vermittlerin: Sie ist Geschäftsführende Leiterin des Konfuzius-Instituts, eines chinesischen Kulturinstituts an der Freien Universität, und Vorsitzende der Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft Berlin. Zudem gibt sie die Zeitschrift Das neue China heraus.
Die Autorin: Im September 2007 erschien ihr Buch "Chinesen in Berlin" im Verlag be.bra, es folgte das Kinderbuch "Lilli und das chinesische Frühlingsfest" im Carlsen Verlag. Im kommenden Jahr erscheint "Chinaprinzessin", Yu-Dembskis autobiografischer Roman über ihre Familiengeschichte, bei edition ebersbach.
In China war das Bildungssystem lange Zeit von konfuzianischen Vorstellungen geprägt. Moderne Wissenschaften wie Natur- und Ingenieurswissenschaften oder Medizin waren keine Ausbildungsgänge, die in China entwickelt waren. Mein Vater kam aus einer reichen kantonesischen Kaufmannsfamilie, wo mindestens eines der Kinder ins Ausland geschickt wurde. Davor war er auf einer zweisprachigen deutsch-chinesischen Mittelschule in Guangdong, wo er Abitur gemacht hat. Aber Deutschland war für die Studenten auch das Land von Marx und Engels. Viele sind daher aus politischen Gründen zum Studium gekommen, wobei sie dann nicht nur studiert, sondern auch ihre Landsleute agitiert haben.
Sie haben sich viel mit dem damaligen Alltag der Chinesen in Berlin beschäftigt. Wie kann man sich das Leben Ihres Vaters und der chinesischen Studenten im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre vorstellen?
200 Studenten haben damals in den hochherrschaftlichen Häusern Charlottenburgs gewohnt. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten in den großen Wohnungen viele Witwen, die Zimmer vermieten mussten. Sie haben gerne an die jungen Chinesen mit den guten Manieren vermietet, weil diese aus gutsituierten Familien kamen oder staatliche Stipendien hatten. Das war gar nicht schlecht – gerade als 1923 Inflation war, haben sie mit ihren chinesischen Devisen gut dagestanden. Es gibt auch Berichte in den Zeitungen über diese modischen jungen Herren – neunzig Prozent der Studenten waren Männer – die häufig in eleganter Begleitung gesehen wurden. Wenn ich mir die Fotos von meinem Vater in den Dreißigern oder Vierzigern ansehe, frage ich mich manchmal: Hat er eigentlich studiert?
Gab es damals so etwas wie eine Mini-Chinatown?
Die Kantstraße in Charlottenburg war das frühere chinesische Viertel. Da wohnte ein Chinese neben dem anderen in den Nebenstraßen zur Untermiete, so wie mein Vater. In Charlottenburg ist die Technische Universität, die Chinesische Botschaft war am Kurfürstendamm 218, auch die Hochschule für Politik war ganz in der Nähe. Dort gibt es heute noch viele chinesische Geschäfte und Restaurants. Die Kantstraße ist inzwischen fast wieder eine chinesische Straße.
Was haben die Chinesen damals gegessen? Gab es damals schon China-Restaurants?
Gerade in der Kantstraße gab es mehrere. In diesen Restaurants gab es weiße Tischdecken und deutsche befrackte Kellner. Auf einem Foto in einem der China-Restaurants 1923 tragen die Chinesen alle Anzug und Krawatte. Das war das Interessante: Die Chinesen haben dort nicht etwa als Kellner gearbeitet, das waren Deutsche. Es soll sogar in den zwanziger Jahren in Berlin eine Gärtnerei gegeben haben, in der chinesisches Gemüse gezogen wurde.
Und in den anderen Vierteln?
Es gab damals zwei soziale Gruppen von Chinesen in Berlin. Außer den Studenten und Wissenschaftlern kamen auch Geschäftsleute, meist aus Qingtian und Wenzhou. Diese wiederum etwa 200 Chinesen haben im heutigen Friedrichshain gewohnt. Das ist der Bezirk um den früheren Schlesischen Bahnhof, ein Kopfbahnhof, wo man mit dem Zug wie der Transsibirischen Eisenbahn aus dem Osten ankam. Das war ein absoluter Arbeiterbezirk. Nur in ganz wenigen Häusern gab es überhaupt ein Badezimmer. Die Toilette war eine Treppe tiefer, viele Häuser hatten mehrere Höfe hintereinander, wo viele kleine Betriebe irgendetwas angefertigt haben. Es gab einen kleinen Laden, wo Chinesen alles Mögliche verkauft haben, es gab andere, die mit einer Ledertasche durch die Gegend zogen, um Porzellan und Kleinigkeiten zu verkaufen, und auch kleine Restaurants und Garküchen.
Zurück zu Ihrer Familie. Ihr Vater kam 1936 nach Deutschland. Wie war diese Zeit für die Chinesen in Berlin?
Richtig, mein Vater ist in der NS-Zeit gekommen, im Jahr der Olympischen Spiele. Aber die Chinesen haben sich von dieser ganzen Rassenpolitik gar nicht beeindrucken lassen. Als Hitler 1933 von den „gelben Rassen“ sprach, hatten Japaner und Chinesen protestiert, auch beim Auswärtigen Amt. Und man hatte da eine Formulierung gefunden, dass diese „hochwertigen“ Kulturen, also diese 5.000 Jahre alten Kulturen, damit nicht gemeint seien. Für die Studenten war alles gut, solange sie nicht aufgefallen sind, dem Staat nicht zur Last fielen, kein Geld brauchten und sich nicht politisch betätigten. Schwieriger wurde es allerdings für die Kleinhändler. Den Wäschereibesitzern haben die Leute zum Beispiel nicht mehr ihre Wäsche gebracht – nicht zum „Chinesen“! Auch Porzellan und Perlen hat irgendwann keiner mehr gekauft. Viele haben wirklich gehungert.
Die Chinesen sind die ganze Zeit eher unter sich geblieben. Wann und wie kamen die ersten deutsch-chinesischen Ehen zustande wie bei Ihren Eltern?
Erst als die Situation im Zweiten Weltkrieg sehr schwierig wurde. Da litten plötzlich alle unter den gleichen Bedingungen: Bombenangriffe, Hunger, Einschränkungen der Reisefreiheit und Ähnliches. Aber als Ehen kann man die Gemeinschaften eigentlich nicht bezeichnen. Es gab keine Eheerlaubnis für Chinesen und deutsche Frauen. Natürlich kam hinzu, dass die meisten deutschen Männer im Krieg waren. Und deswegen hatte so ein gut aussehender Chinese bei meiner Mutter dann auch eine Chance. Ich bin 1943 geboren, aber heiraten konnten meine Eltern erst nach dem Krieg, im Juni 1945.
1945 gab es eine große Rückholaktion. Die chinesische Regierung organisierte den Rücktransport und jeder bekam um die 100 US-Dollar. Sind viele Familien damals nach China zurückgegangen?
Von den 80 deutsch-chinesischen Ehen, die es damals in Berlin gab, ging mindestens die Hälfte der Frauen mit ihren Männern nach China zurück. Für die deutschen Frauen und deren Kinder, die in der Zwischenzeit geboren worden waren, gab es als Vorbereitung an der Lietzensee-Schule Chinesisch-Unterricht. Ich habe einen Bericht in der damaligen Presse über die Kinder gelesen, die in diese Schule gegangen sind, und von den blonden deutschen Frauen, die gesagt haben, es sei zwar eine schwere Sprache, aber sie wollten nach China gehen, nachdem sie endlich hatten heiraten dürfen.
Ihr Vater ist damals wegen Ihrer Mutter nicht zurückgegangen, hat sich aber später doch von ihr getrennt.
Ja, meine Eltern haben zwar geheiratet, und für meine Mutter war es die Liebe ihres Lebens. Für sie gab es auch nie wieder einen anderen Mann. Aber mein Vater hat sie irgendwann wegen einer Chinesin verlassen. Das hat dazu geführt, dass meine Mutter alles ablehnte, was mit China zusammenhing.
Wie hat sich das auf Ihre Kindheit ausgewirkt?
Ich war damals 13, 14. Mein Vater hat nicht nur meine Mutter verlassen, sondern auch mich als Tochter. Auf der anderen Seite hat meine Mutter nicht nur alles Chinesische abgelehnt, sondern auch mich, weil ich für sie der Inbegriff allen Chinesischen war. Im Gegensatz zu meinem Bruder, der den deutschen Anteil repräsentiert hat. Mein Bruder sieht ganz europäisch aus, er hat die Nase meiner Mutter und die grünen Augen. Jetzt sieht man es nicht mehr so stark, aber früher sah ich schon chinesischer aus.
Ihr Vater gründete das „Canton“, ehemals auf dem Stuttgarter Platz, eines der ersten China-Restaurants der Nachkriegszeit, später das „Hongkong“.
Das Restaurant war ganz anders eingerichtet als die heutigen China-Restaurants. Es gab einen Springbrunnen, geschmackvolle Seidentapeten mit chinesischen Mustern und schwarze Tische. Dazu gründete mein Vater die mondäne Honkong-Bar am Kurfürstendamm, die in den 50ern und 60ern sehr beliebt war. Aber mein Vater war kein besonders guter Geschäftsmann. Er wollte den Berlinern vielmehr die chinesische Kultur vermitteln. Deshalb war mein Vater bei seinem Tod nicht irgendein Chinese, sondern eine chinesische Institution in Berlin.
Ihr Vater ist 1976 gestorben. Warum hat Sie gerade sein Tod China näher gebracht?
Er starb durch einen Schlaganfall, und die Bild-Zeitung titelte damals „Chinesenkönig tot auf dem Kurfürstendamm“. Ich bin von seinem plötzlichen Tod überrascht worden und hatte das Gefühl, dass ich nichts über die Herkunft meiner Familie wusste. Hunderte Chinesen sind zur Beerdigung gekommen. Sie haben alle auf Chinesisch auf mich eingeredet; ich stand da und konnte kein Wort, nichts, ist wusste nicht, was los war. Ich bin eben ganz wie eine Deutsche aufgewachsen. Dann kamen plötzlich Verwandte, die mich umarmt haben. Einer sagte: „I am your cousin“. Der wollte sich nun um mich kümmern – sozusagen als neues Familienoberhaupt. Da habe ich gedacht: Na hoppla, so nicht!
Trotzdem haben Sie nach dem Tod Ihres Vaters Ihre chinesischen Wurzeln gesucht, haben bei den Sinologen Kurse belegt und sind 1980 das erste Mal nach China gefahren. Eine gewöhnliche Reise war das für Sie sicher nicht.
Es gab da ein Schlüsselerlebnis: Wir kamen in eine Volkskommune und unterhielten uns darüber, wie viele Leute da arbeiten, wie hoch die Produktion ist. Plötzlich fragte der Produktionsleiter: Diese junge Frau da, ist sie auch vom Reisebüro? Da konnte ich meine drei Sätze Chinesisch anbringen: Mein Vater ist Chinese, meine Mutter ist Deutsche, deshalb bin ich eine halbe Chinesin. Mein Name ist Yu Demei. Dann hat er plötzlich auf Chinesisch gesagt: Dein Vater ist Chinese? Na, dann bist du auch Chinesin! Wie wird dein Nachname geschrieben? Ich habe das Yu auf meine Handfläche gemalt und bin in Tränen ausgebrochen.
Was hat dieser Moment in Ihnen ausgelöst?
Ich hab gedacht, jetzt bin ich zu Hause. Da brach plötzlich etwas durch, was jahrzehntelang in mir war. Mein Mutter hat auf meinen Vater geschimpft und mich eben auch abgelehnt wegen meines chinesischen Anteils. Und hier sagt einer: Mensch, dann bist du ja Chinesin. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich gehöre dazu. Selbst wenn ich das jetzt erzähle, ist es für mich ganz emotional. Ich fange heute noch an zu heulen.
Bei dieser Reise ist Ihnen noch etwas ganz anderes aufgegangen.
Mir ist dabei klar geworden, wie der Verlust der Heimat für meinen Vater war. Er konnte nicht mehr nach China, weil die Volksrepublik China ihm keinen Pass mehr gegeben hat. Er war staatenlos. Es gibt eine chinesische Redewendung: Die Blätter fallen zu den Wurzeln zurück. Er ist mit Anfang zwanzig nach Deutschland gekommen und hat 40 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht. Trotzdem fehlte ihm etwas. Für mich ging es nicht nur um meine Identität, sondern stellvertretend auch um die meines Vaters. Ich dachte, ich mache das für ihn, weil er nicht mehr zurückkonnte.
Seitdem scheint Sie China nicht mehr losgelassen zu haben. Heute vermitteln Sie den Berlinern China als Geschäftsführerin eines Konfuzius-Instituts, eines chinesischen Kulturinstituts, das es weltweit gibt.
Damit setze ich die Kulturarbeit meines Vaters fort. Ich kann aus ganz, ganz vielen Erfahrungen schöpfen. In der Zusammenarbeit mit den chinesischen Mitarbeitern habe ich ein sehr gutes Gespür. Außerdem weiß ich, wie Deutsche ticken, was Deutsche interessiert, wie ich ihnen etwas verständlich machen kann. Ich kann aus meiner Kenntnis deutscher Kultur die chinesische erklären – die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede.
Heute leben rund 1.400 chinesische Studenten in Berlin. Wenn Sie die Chinesen und Deutschen heutzutage sehen, was würden Sie sich im Miteinander wünschen?
Eines der größten Probleme ist, dass die Kommunikation nach wie vor nicht so gut funktioniert. Das hängt damit zusammen, dass die Chinesen sofort mit der chinesischen Politik identifiziert werden und sie immer stellvertretend für „das“ China stehen. Ich glaube, das nervt sie wirklich. Man wird immer als Chinese wahrgenommen, auch, wenn man hier aufgewachsen ist und überhaupt kein Akzent zu hören ist. Manche Frauen erzählen mir, dass immer noch in manchen Köpfen die exotische Chinesin rumschwirrt, die man auch entsprechend behandeln kann. So eine kleine, niedliche Chinesin. Da bin ich als Feministin sehr hellhörig. Diese Chinabilder im Kopf zu verändern ist mir ganz, ganz wichtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands