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MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN

VON ELKE SCHMITTER

Trauern

Friederike Mayröcker: „Requiem für Ernst Jandl“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001, 45 Seiten, 24 DM

„. . . ich kleide den Himmel mit Dunkel, spricht der Herr, und mache seine Decke gleich einem Sack, ich hüpfe in meinem Sack, o Herr, schreie ich, eingenäht in meinen Sack, ohne Trost ohne Wort und Vergebung.“

Es gibt nicht viele Worte für die Trauer, wie es scheint; man kann sie nicht unendlich vermehren. Selbst eine Virtuosin der Erfindung, wie Friederike Mayröcker, kommt auf die Tradition, wenn es gilt, ihr Requiem für Ernst Jandl zu schreiben: So ist ihre Klage eine in jenem Ton von Wehmut und Bedauern, von Aufbegehren gegen die Trennungen der Endlichkeit, der in Europa eben zu Hause ist; und auch DER HERR fehlt nicht, selbst wenn die Erinnerung an ihn eher eine semantische, fast melodiöse zu sein scheint, eine ästhetische Erinnerung und kein Versprechen. „Ach wie lang gewachsen müssen seine Fingernägel jetzt schon sein, oder verfärbt, oder abgefallen, wie bleich seine Hände, wie lang seine Haare. Die Oberlippe eingenäht 1 wenig eingenäht schmachtend eingenäht, unter dem Leichentuch, dieses Zähnchen Zähnchen als er lag, leblos unter dem Linnen, dieses Zähnchen das Zähnchen die Oberlippe 1 wenig einziehend ganz wenig, Kopf nach links gedreht, ganz EINGESCHOTET, wie schlafend, das unterkühlte Hemd.“ Da ist kein Trost der Transzendenz mehr, nur ein fortwährendes Weiterreden in einer vagen, nicht aussprechbaren Hoffnung, der andere würde es hören; in einem dritten Raum, wo Endlichkeit und Ewigkeit nicht mehr geschieden sind, in diesem Raum, den Mann & Frau sich wünschen. „in der Küche stehn wir beide / rühren in dem leeren Topf / schauen aus dem Fenster beide / haben 1 Gedicht im Kopf“.

Denken

David J. Edmonds, John A. Eidinow: „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte“. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2001, 284 Seiten, 39,80 DM

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts gibt es eine Begegnung, die bei weitem nicht so bedeutend, politisch unvergleichlich weniger brisant und verhältnismäßig untragisch war, die aber beinahe ebenso viel Raunen und Rumor nach sich zog wie der legendäre Spaziergang von Bohr und Heisenberg im Jahre 1941 in Kopenhagen: Niemand weiß, was dort gesprochen wurde, welchen Verlauf diese Begegnung nahm, welche strategischen Intentionen eine Rolle spielten (wollte Heisenberg seinen Lehrer für die Nazis gewinnen? ihn im Gegenteil vor der Bombe warnen? ausspionieren, wie weit die Alliierten waren? eine Art Beichte ablegen? sich selbst abwerben lassen? etc.), obwohl es Zeugnisse von beiden Beteiligten immerhin gibt. Und so verhält es sich auch mit der Begegnung von Karl Popper und Ludwig Wittgenstein in Cambridge, am 25. Oktober 1946, in einem leicht verwahrlosten Raum der Universität – eine Begegnung, in der eine philosophische Diskussion durch einen Schürhaken unterbrochen? entschieden? beieinflusst? – jedenfalls: geprägt wurde. Es gab allerdings nicht nur die beiden Beteiligten, sondern insgesamt dreißig Zeitzeugen, allesamt mit Fragen der Wahrheitsfindung, Logik von Aussagen und dergleichen professionell beschäftigt und insofern prädestiniert für die Teilnahme an einem Verfahren, das David J. Edmonds und John A. Eidinow vor einigen Jahren anstrengten: herauszufinden, was damals wirklich passiert ist.

Die Kerngeschichte kennen alle, die wenigstens einen Lexikonartikel über Wittgenstein oder Popper jemals in der Hand hatten: Der erste ordentliche Professor in Cambridge, damals schon hoch in den Fünfzigern, exzentrischer und gefürchteter denn je, saß einem Kreis von Philosophen vor, die einmal wöchentlich Probleme freier Wahl zu diskutieren pflegten. Der andere, Gastredner aus London, war ebenfalls ein arrivierter Philosoph, berühmt geworden durch sein während des Zweiten Weltkriegs geschriebenes populärstes Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, allerdings – im Gegensatz zu Wittgenstein – schriftlich ungebrochen produktiv. Wittgensteins einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch, der „Tractatus logicus philosophicus“, war das Werk eines jungen Genies, noch vor 1914 verfasst. Seither hatte er seine Zeit damit verbracht, sozial benachteiligten Kindern in den Bergen Österreichs und anschließend hoch begabten Studenten in Cambridge das Gefühl zu geben, sie nähmen am Leben eines Jahrtausenddenkers scheu und mit angemessener Demut teil. Während er für seine gedankliche Tiefe berüchtigt war, für die opaken Abgründe seines Geistes, für sein düsteres Schweigen und die unerreichbare Delikatesse seiner intellektuellen Skrupel – stellte sein Widersacher Popper eher eine Erektion des gesunden Menschenverstandes dar: schlau und gewitzt, beinahe ermüdend rational, unaufhörlich formulierend, eine Exekutionsmaschine der Klarheit. Beide hielten sich – und wurden darin von ihren Kollegen bekräftigt – für die Größten ihres Jahrhunderts und die Vollstrecker der abendländischen Philosophie, und beide waren „von kleiner Statur, bis zur Erschöpfung intensiv und kompromissunfähig. Beide waren tyrannisch, aggressiv, intolerant und ichbezogen“ und österreichische Emigranten aus jüdisch-assimiliertem Milieu außerdem. Die einzige Begegnung dieser beiden (die immerhin nur eine Fuchsjagd voneinander entfernt wohnten) gipfelte in einem Eklat, den Popper in seiner Autobiografie so wiedergab: Wittgenstein habe „nervös mit dem Schürhaken gespielt“, den er „wie einen Dirigentenstab benutzte, um seine Behauptungen zu unterstreichen“. Als die Rede auf die Möglichkeit ethischer Grundsätze kam, forderte Wittgenstein seinen Widersacher auf, ein Beispiel für eine moralische Regel zu geben. „Ich erwiderte: ,Man soll einen Gastredner nicht mit einem Schürhaken bedrohen.‘ Darauf warf Wittgenstein ärgerlich den Schürhaken hin, stürmte aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu.“

Ja, stimmt denn das? Diese Frage stellten die beiden Autoren und bekamen Antwort immerhin von neun noch lebenden Zeitzeugen. Aber sie gehen ihr auch systematisch nach – vielleicht das berühmte Stück „Kopenhagen“ von Michael Frayne (über die Bohr-Heisenberg-Begegnung) als Vorbild im Kopf, das eine andere ästhetische Form wiedergibt, aber eine vergleichbare Gründlichkeit erforderte: Sie schreiben eine Art Kriminalgeschichte dieser Episode mit wahrhaftig allem, was dazu gehört. Die Leser erfahren viel über die soziale Organisation von Cambridge – nicht nur höheren Klatsch über Figuren wie Bertrand Russell, Iris Murdoch, A. J. Ayer, Elisabeth Anscombe und so fort, sondern auch Wissenswertes über die Lebensbedingungen im Nachkriegsengland und, vor allem, die Konstellationen der Geistesgeschichte, die eine Begegnung von Wittgenstein und Popper derart brisant machten. Sie lesen eine lebendige, temperamentvolle und polemische, aber niemals denunzierende Charakteristik der Hauptfiguren dieser Anekdote, tauchen ein ins alte, unendlich reiche Wien (Familie Wittgenstein) wie in die Welt des bürgerlichen Ehrgeizes (Popper) – und bekommen eine solide, extrem unterhaltsame, hin und wieder brillante Einführung in die klassischen Probleme der Erkenntnistheorie unter Berücksichtung der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine hinreißende Spielerei, charmant und lässig, penibel recherchiert und im Anspruch verwegen, ganz und gar englisch in seinen Vorzügen – und in seinen Nachteilen leider deutsch. Vier Übersetzer hat dieses Buch, die einen Lektor wohl erfolglos haben suchen müssen, sodass die Lektüre durch sprachliche Unbeholfenheiten, Wiederholungen, Unklarheiten bedauerlich getrübt wird. Der Verlag lässt uns nicht wissen, wo und unter welchem Titel die Originalausgabe erschienen ist; wer aber Englisch lesen kann, wäre gut beraten, sie sich zu verschaffen.

Erfinden

Ted Hughes: „Wie Dichtung entsteht“. Insel-Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 286 Seiten, 39,80 DM

Die Ästhetik, welche sich Dichter zu ihrer Kunst nachträglich hinzuerfinden, ist selten illuminierend: Denn wenn sie wüssten, wie man’s macht, dann wäre es ja kein Wunder. Ted Hughes ist insofern eine erfreuliche Ausnahme, als er entspannt und ohne Allüren von seinen ersten Taschenmäusen und den folgenden Gedichten berichtet, wie um sich selbst Aufklärung zu geben, wie aus dem kleinen Jungen in einer Industriestadt in Süd-Yorkshire der Poet laureate werden konnte. Seine ersten lyrischen Versuche waren „keine Tiergedichte. Es dauerte noch Jahre, bis ich das schrieb, was man ein Tiergedicht nennen würde, und noch ein paar weitere Jahre, bis mir aufging, dass das Gedichteschreiben teilweise die Fortsetzung meiner früheren Jagd auf Tiere sein könnte. Heute habe ich keinen Zweifel mehr daran“. Ein Werkstattbericht, schön eigensinnig. (Nur die Aufsätze zu Plath sind, in ihrer sturen Sachlichkeit, allein für ein Publikum interessant, das sich an diesem Kirchenstreit auch nach dem Tod nun beider noch in Empörung ergötzen will.)

Diskutieren

Du: „Hannah Arendt. Mut zum Politischen“, Heft Nr. 710, 20 DM

Aus den Buchhandlungen – und ohnehin liegt es nur in den besten – ist es schon fast wieder heraus, deshalb soll an dieser Stelle noch einmal an das Du-Heft zu Hannah Arendt erinnert werden. Es ist nicht nur, wie immer, ästhetisch erfreulich, sondern birgt auch, wie beinahe im Regelfall, intellektuelle Überraschungen und zeitgenössische Einsichten. Seyla Benhabib macht sich die nicht nur erheiternde Mühe, „mit Arendt gegen Arendt“ zu Fragen des Feminismus Stellung zu nehmen, und Amos Elon führt Eichmann noch einmal nach Jerusalem zurück. Der Fall Heidegger wird leider blass & vorsichtig verhandelt – das heißt weder als ein Roman (der es auch war) noch – was interessanter, aber eben beinahe noch heikler ist – unter systematischer Rücksicht: Was hat sie von ihm gelernt und eben nie verraten? Vermissen kann man einen Aufsatz zu ihrem Varnhagen-Buch (was für ein wunderbares Deutsch hat sie damals geschrieben!); erfreulich ist der Abstand vom Hagiografischen, der sich in den produktiven kurzen Stellungnahmen zeigt, prägnant hier von Lord Dahrendorf: „Was ihre großen Argumentationen betrifft, so scheinen sie mir samt und sonders dem Korean Airline disaster, also dem von den (Sowjet-) Russen abgeschossenen koreanischen Passagierflugzeug, vergleichbar: Am Anfang war es nur um ein Grad vom richtigen Kurs abgewichen, dann aber blieb es störrisch und endete in einer Zone des Verderbens, einer Katastrophe. Am Anfang der ,Vita activa‘ wird definiert, Arbeiten und Herstellen und Handeln. Nur eines fehlt: das, was Marx Tätigkeit genannt hat, also Freiheit. So kommt die Autorin denn auch trotz des (deutschen) Untertitels ,Vom tätigen Leben‘ nicht zu der aristotelischen Kernfrage, die auch die von Marx war, wie weit wir nämlich dem Reich der Notwendigkeit, der Fremdbestimmung, entkommen können. Hannah Arendt endet stattdessen in einem nicht erinnernswerten Wirrwarr der Argumente. The Korean Airline disaster.“ Also: nicht nur eine Leseempfehlung, sondern auch eine -hilfe. Kann nicht schaden in Zeiten der manchmal diffusen Verehrung.

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