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Archiv-Artikel

MITTELGUTE BIS GUTE KONZERTE, TANZ ALS BILLIGE PAARTHERAPIE UND KOLLEKTIVE SOMMERWUT Die Komplettstimmung ist im Steigen begriffen

SONJA VOGEL

Der beste Tisch im Ballhaus Berlin bleibt am Freitagabend leer. Darauf stehen zwei Flaschen Veltins, unberührt. Auf einem der Barhocker liegt ein Schal. Jeder versteht es: „besetzt“, heißt das in Universaldeutsch. Nach einer Stunde ist der Laden: voll. Der Tisch aber: leer. Was sind das für Menschen, denke ich, die einen Tisch mit Veltins blockieren? Und warum gehorchen wir? Für ein paar Minuten setze ich mich auf den Barhocker hin. So!

Dann geht Doc Schoko auf die Bühne, die Gitarre hängt tief. Beim ersten Song reißen ihm zwei Saiten. Zuerst scheppert es nur arg, schließlich säuft der Gesang irgendwo im Geräuschebrei ab. „Das klingt auf der Platte besser“, versucht es ein Freund zögerlich. Ich glaube ihm nicht. Den Rest des Konzerts verbringe ich im Späti nebenan.

„Die Komplettstimmung ist im Steigen begriffen“, nuschelt Markus Binder von Attwenger ins Mikro, als ich zurückkomme. Vor ihm stehen Menschen mit hängenden Schultern, die Füße fest im Boden verschraubt. Schnell aber treibt das Duo die Stimmung hoch. Binder jagt im Dada-Rap durch die Gstanzl. Neben ihm bearbeitet Hans-Peter Falkner seine elektrisch verstärkte Knopfharmonika. Er reißt sie immer wieder tief hinunter, um jaulende Rückkopplungen zu erzeugen. Die breitbeinige Rockerpose aber geht komplett in der sweeten Kauzigkeit auf.

Attwenger sind minimalistisch: das Achselshirt knapp, die Hose kurz, das Schlagzeug ein Cocktail Set. Mehr braucht es nicht. Binder trommelt sich in eine Art Rumpf-Voguing in Zeitlupe, alles ganz weich, die Schultern, der Kopf, der ganze Körper in Bewegung. Das passt so gar nicht zum treibenden Beat – und ist gerade deshalb schön. Ich könnte ewig hinschauen. Wenn da nicht diese Frau im roten Kleid wäre, die mir mit ihrer Mischung aus Pogo und Ausdruckstanz mit allen möglichen Körperteilen die Sicht nimmt.

Ich fahre nach Kreuzberg. Der Kotti ist überfüllt. Alle stehen sich im Weg rum, und alle haben wie immer den falschen U-Bahn-Aufgang genommen. Ich auch. Zwei Ampeln bis zum Südblock. Eine Freundin feiert da. Draußen stehen die Coolen. Drinnen: Jugendzentrum. Aber auf eine schöne Art. Es tanzen ungelenke Fuchtler und Paare – die aneinander vorbeitanzen, welche, die sich fest aneinanderkrallen, und Profis, die sich hin und her schieben. „Paartanz ist die Paartherapie für Arme“, sagt ein Freund und kippt dabei fast vom Barhocker. Wir beobachten ein paar Twens, die sich bemühen, die schlimmen Gruppenmoves aus der Tanzschule jetzt Erwachsenenparty-tauglich aufzubereiten. Es ist rührend, wie sie scheitern.

Am Samstag bin ich partymüde. Ich brauche lange, bis ich es zum Lido schaffe. Egotronic spielen da. Das ist ein Muss. Eigentlich. Oder? Jedenfalls bin ich ganz froh, als ein Bekannter mich mit billigem Bier aus der Schlange lockt. Der Kelch, Alterspräsidentin eines Egotronic-Konzerts gewesen zu sein, ging also an mir vorüber. Und einen zweiten Konzertbericht? – Will ja auch kein Mensch lesen.

Dass es warm ist, interessiert hingegen alle. Am Sonntagmorgen spielt meine gesamte Nachbarschaft Sommer. Alle sind auf der Straße. Nach langen Monaten in düsteren Wohnungen sind sie überreizt. Eine Frau meckert eine Radfahrerin an, die auf dem Bürgersteig fährt. Ein Autofahrer hupt wild, weil ein paar Jungs über die Straße wollen. Ein Kleinkind wird an mir vorbeigeschoben, es streckt mir die Zunge raus, lehnt sich sogar weit aus dem Wagen, damit ich das möglichst lange sehen kann.

Erschöpft gehe ich nach Hause. Schon an der Straßenecke liegt ein süßlicher Geruch nach Schweiß und Verwesung in der Luft. Aha! Der Nachbar aus dem EG hat seine Fenster gekippt. Nun ist es offiziell: Der Sommer ist da. Wie schön.