MAUS UND TONNE : Leichengift
Marie trug eine fette Maus im Maul. Offenbar hatte sie den Nager gerade totgespielt und suchte jetzt einen geeigneten Ablageplatz. Sie fand ihn auf unserer Wiese. „Behaltet eure Leichen gefälligst bei euch!“, rief ich Maries Besitzerin zu, die zwei Gärten weiter mit dem Giersch kämpfte. Natürlich grinste sie nur.
Ich hob die Maus vorsichtig an der Schwanzspitze hoch. Sie war noch schwerer als erwartet. Ein hübsches und äußerlich unversehrtes Tier: rötliches Fell, heller Bauch. Die Katze war längst weg. Ich trug ihr Opfer ins Haus.
„Guckt mal“, sagte ich zu den Kindern und hielt ihnen die Maus wie ein Pendel vor die Nase. „Du bist gemein“, sagte J. und streichelte das rotbraune Fell mit einem Finger, „arme Maus.“ „Ich war’s nicht“, erwiderte ich und zog sie weg. Als ich so alt war wie J., schärfte man mir ein, niemals Tierkadaver zu berühren: „Leichengift!“ Ich hatte dann panische Angst, zu nah an einem toten Vogel vorbeizugehen – wer konnte schon wissen, wie sich das mysteriöse Gift übertrug.
„Hände waschen“, befahl ich jetzt sicherheitshalber und trug die Maus zur Mülltonne. Die Kinder hätten wohl eine Erdbestattung vorgezogen, waren aber mit irgendwas beschäftigt.
Die Tonne – eine Spartonne, innen nur halb so tief wie außen – war noch leer. Die Maus lag da ganz allein. Irgendwie konnte das so nicht bleiben. Ich holte die Mülltüte aus der Küche und stellte sie darüber. Ohnehin würde bald die BSR kommen.
Als ich den geleerten Behälter einige Abende später vom Straßenrand holte, sah ich vorsichtshalber hinein. Die Maus lag immer noch da. Sie war auf den Rücken gedreht und sah nicht mehr so hübsch aus. Eigentlich logisch: Eine einzelne Tüte ziehen die händisch aus der Spartonne, die wird nicht extra ausgekippt.
Auf einer zusammengefalteten Zeitung trug ich die Maus hinter die Hagebutte, um sie dort zu begraben. Sie war schon merklich leichter. CLAUDIUS PRÖSSER