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Archiv-Artikel

MATTHIAS URBACH über DER PERFEKTE KAUF Wir sind jetzt nett zu den Kindern

Moderne Erziehungsratgeber warnen: Nur strenge Eltern sind vor ihren Kindern sicher. Stimmt das?

Kaum nähert sich die Zahnbürste, fällt der Mund meines Sohnes schlagartig zu. „Mach bitte auf“, sage ich, „die Zähne sollen doch sauber sein.“ Doch er lässt sich von meinem Schoß heruntergleiten, wird schwer und aufreizend schlaff. Irgendwie bekomme ich die Bürste dann doch zwischen seine Zähne. Kaum aber nehme ich sie für eine Sekunde heraus, macht er mit Daumen und Zeigefinger blitzschnell eine Vierteldrehung vorm Mund. „Abgeschlossen“, presst er grinsend hervor.

Was tun? „Konsequent sein!“ raten aktuelle Erziehungsratgeber. Eltern sollen sich nicht auf Diskussionen einlassen und auf das Verrichten bestehen. Gehorsam kultivierte auch ich in solchen Momenten „Keine Diskussion“ zum zentralen Argument. Mit schlechtem Gewissen. Und noch schlechteren Resultaten.

Nach spätestens fünfzehn Minuten konsequentem Nichtdiskutieren eskaliert die Zahnpflege. Aber auch damit wird man nicht allein gelassen: Zum Abkühlen die Kinder in die Ecke stellen, empfehlen moderne Methoden wie „Triple P“. Meinen Sohn in die Ecke zu schieben ist allerdings viel schwerer, als seinen Mund zu öffnen.

„Sie dürfen ihr Kind schon mal zwingen, wenn es der Gesundheit dient“, rät mein Arzt. Einfach festhalten!? Doch mein Sohn wehrt sich so sehr gegen die Augentropfen, dass ich ihn in den Schwitzkasten nehmen muss. Er kreischt, tobt und weint. Und in mir wachsen ernste Zweifel: Wie kann ich nur so ein Arschloch sein? Wenn er doch Angst hat.

Auch ich gehörte einst zu den naiven Onkels, die kritisch die Erziehungsfehler ihrer Freunde beäugten: Wie kann sich Peter nur von Leon so auf der Nase herumtanzen lassen? Nun brüte ich selbst über einem Regalmeter Ratgebern. Dort wimmelt es von Tipps zum Bändigen renitenter Gören. Will man aber Kinder sanft zur Kooperation bringen, sind die Ratschläge rar. „Kinder brauchen Grenzen“, lautet der Leitspruch der Nation, den selbstgefällige Sachbucheltern wie Petra Gerster aus den Talkshows verkünden.

Solche Ratgeber fantasieren Eltern gedanklich in den Krieg: Machen Sie bloß keinen Fehler! Lassen Sie die Racker niemals gewinnen! Das geht schon beim Baby los: Man solle es ruhig öfter mal schreien lassen. Irgendwann sind die Kleinen mürbe und geben Ruhe. Ich kenne einen Elfjährigen, der seine Mutter gebeugten Hauptes fragt, ob er vorm Schlafengehen noch duschen darf.

Eines Abends, wieder mal beim Zähneputzen, lasse ich mich von meinem Sohn über seine Grenzen locken. In seiner Welt öffnet sich das Maul schlagartig, um die Dinosaurierzähne zu entblößen. Und die Bürste wird geordert, um Tiger und Nilpferde aus den Zwischenräumen zu vertreiben. Alles geht glatt – Hauptsache, Tiere und Bürste tratschen bei der Arbeit.

Und obwohl ich genau weiß, dass ich niemals Schokolade als Belohnung einsetzen darf, hatte ich eine weitere angenehme Grenz-Erfahrung, als ich genau das tat, um meinem Sohn für eine Woche Augentropfen zu belohnen. Fühlte sich sehr viel besser an, als ihn „zu seinem Besten“ zu demütigen. Dennoch war ich unsicher: Würde sich das alles rächen? War ich zu weich? Können so viele Ratgeber irren?

Eines Tages entdeckte ich dieses Buch: „Kinder sind von Anfang an eine eigene Persönlichkeit und sind damit menschlich und sozial kompetente Partner ihrer Eltern.“ Hallo, was sind das denn für Töne auf der Klappe von Jesper Juuls Buch „Das kompetente Kind“?!

Die Botschaft des dänischen Familientherapeuten ist schlicht: Kinder sind keine Wilden, Kinder wollen kooperieren. Doch „seit Hunderten von Jahren haben wir Kindern Respekt vor Macht beigebracht – aber nicht vor Menschen“.

Das Problem seien nicht renitente, sondern „überkooperierende“ Kinder. Sie versuchten allen Ansprüchen gerecht zu werden, und könnten kein Gefühl für eigene Bedürfnisse entwickeln. Es geht also darum, sein Kind zu verstehen, statt es zu formen. Wer seinen Kindern mit Respekt begegne, werde Respekt ernten, verspricht Juul. Der Rest komme dann schon. Und weil ich nicht will, dass mein Kind sich jemals vor mir in den Staub wirft, damit es duschen darf, liegen Gerster & Co. jetzt im Papierkorb und Juul auf dem Nachttisch.

Fazit: Meine Frau und ich sind noch weit entfernt vom jüngsten Gericht, der Pubertät. Aber wir sind voller Hoffnung, dass unsere Kinder gnädig sein werden, wenn wir jetzt nett zu ihnen sind.

Fragen zu Erziehungsberatern? kolumne@taz.de Morgen: schon wieder KINDER, Bernhard Pötter