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Archiv-Artikel

MATTHIAS URBACH über DER PERFEKTE KAUF „Acrylamid? Macht mal halblang!“

Chips sind nicht nahrhaft, aber auch nicht lebensgefährlich. Im Gegenteil. Gute Chips sind Kunstwerke

Wir naschen Schokopudding und schauen unsere Serie. Plötzlich sagt meine schwangere Frau: „Wir hatten schon ewig keine Chips mehr.“

Stimmt, denke ich. Nur warum? Ich suche nach Gründen, während mein Löffel vergeblich am Becherboden kratzt. Alle. Pudding zum Fernsehen funktioniert nicht: Kaum sitze ich, ist der Becher schon leer. Chips sind ganz anders. Man kann wunderbar vor sich hin knuspern. Die reine Psychophysik: Die würzigen Dinger lassen den Speichel fließen, der macht Lust auf den nächsten Chip – und so weiter. Mit ein wenig Beherrschung reicht die Tüte bis zum Abspann.

Wieso hatten wir keine Chips? Was treibt zwei erwachsene Menschen dazu, klaglos auf ihren Lieblingssnack zu verzichten?

Vor eineinhalb Jahren hatten irgendwelche Schweden unglaublich hohe Werte Acrylamid in Brotkrusten, Bratkartoffeln und Chips gefunden. Es bildet sich beim Rösten. Schnell kam Renate Künast auf Touren, gab Brathinweise und mahnte die Industrie zur Vorsorge. Das klang irgendwie sehr einleuchtend.

Seitdem versuchen wir nicht mehr, unseren Zweijährigen zu überzeugen, die Rinde vom Brot mitzuessen. Statt Bratkartoffeln gibt’s Püree. Und obwohl wir es nicht abgesprochen hatten, kaufte keiner von uns mehr Chips.

Nun aber war der Appetit meiner Liebsten in Geiselhaft ihrer Hormone. Und ich war fest entschlossen, Chips aufzutreiben, die trotzdem essbar waren. Foodwatch veröffentlich seit Monaten Chips-Messungen im Internet (www.foodwatch.de), um zu kontrollieren, ob die Acrylamidwerte sinken. Während einige Hersteller tapfer an ihrem Röstverfahren festhalten, konnte etwa Lidl den Acrylamidgehalt seiner „Rusti Crusti Croc“ auf ein Zehntel drücken. Aber meine Frau mag das Zeug nicht.

Acrylamid, so viel habe ich inzwischen gelernt, wird in der Kunststoffindustrie verwandt, ist ein Nervengift und steht in Verdacht, Krebs zu erregen. Dabei röstet die Menschheit seit Jahrtausenden ihre Speisen. Kann da Acrylamid wirklich so schlimm sein?

Ich frage einen Ernährungsforscher. Udo Pollmer fragt zurück: „Was halten Sie von Brokkoli?“ – „Gesund?“, sage ich vorsichtig. „Der enthält Indol-3-carbinol“, erklärt Pollmer, „ein toxikologischer Verwandter des Seveso-Gifts“.

Behutsam lindert er meinen Schock. Man müsse die Lebensmittel als Ganzes betrachten, meist finde man beides: Krebs fördernde und Krebs hemmende Substanzen. Inzwischen sind zwei Studien zu Acrylamid abgeschlossen: Die erste, vom Anfang des Jahres, stammt aus Schweden und untersuchte 1.000 Krebspatienten nach ihren Essgewohnheiten. Wer viel Knäcke, Pommes oder Chips aß, hatte nicht häufiger Darmkrebs als andere. Die zweite, eine europäisch-amerikanische Koproduktion, untersuchte sogar 10.000 Fälle und ein größeres Spektrum von Krebssorten. Mit demselben Resultat. „Da kann man nur sagen: Macht mal halblang!“, verabschiedet mich Pollmer.

Also was soll’s? Abends um acht, wenn der Kleine und die gesunde Ernährung ins Bett gebracht sind, dann wollen wir Chips essen. Ich brachte meiner Liebsten fünf Tüten zum Test mit. Am schlimmsten sind Chipsletten, weil ihre komplett gleiche Form die Psychophysik zerstört, man kommt sich vor wie am Fließband. Wir erklären die teueren Kettle-Chips mit Balsamicoessig und Meersalz zu unseren Lieblingen. Hier ist jeder Chip ein Kunstwerk, sie schmecken nicht nach falschem Aroma – sind aber auch am dunkelsten geröstet.

Fazit: Chips sind nicht nahrhaft, aber unsere Lieblingsserie kommt auch nicht auf Arte. Man sollte Chips nach Qualität wählen, nicht nach Acrylamidgehalt.

Fotohinweis: MATTHIAS URBACH

DER PERFEKTE KAUF Fragen zu Chips? kolumne@taz.de Dienstag: Jenni Zylka über PEST & CHOLERA