■ Lucky Streik?: Problem ausgesperrt
Vor einem Jahr stand ich mit zwei KollegInnen vor 600 Studierenden. Sie waren statt der erwarteten 60 gekommen, um an der Gießener Universität die Einführung zur politischen Bildung zu hören. Damals waren hier die Einführungen für Lehramtsstudierende so überfüllt, daß die Erstsemester aus nahezu allen Seminaren hinausflogen. Die jahrelange Unterversorgung der Universität führte zum kollektiven Ausschluß der Studienanfänger vom Lehrbetrieb. Sie konnten ihr Studium nicht beginnen. Ihnen wurde praktisch nahegelegt, erst im nächsten Semester wiederzukommen.
So etwas war in diesem Ausmaß noch nie geschehen. Die Betroffenen wehrten sich, sie besetzten die Gebäude der Uni. Sie bestanden auf dem Recht zu studieren – und zwar jetzt. Sie wollten in die Uni und damit in die gesellschaftlichen Institutionen überhaupt hinein. Ihr politisches Ziel war, sich den Zugang zu den Möglichkeiten der Gesellschaft zu erkämpfen.
In diesem Jahr sieht es für die Studienanfänger an der Gießener Uni besser aus: Ein Mehrfaches an Lehrveranstaltungen wird für sie angeboten. Zugleich nahm die Zahl der Studierenden ab, weil die Uni-Leitung vergangenen Sommer bei der rot-grünen Landesregierung einen Numerus clausus für Lehramtsstudiengänge durchgesetzt hat. Eine bestimmte Anzahl von Personen wird also von vornherein nicht zum Studium zugelassen. Die Uni ist damit ein gesellschaftliches Problem wieder losgeworden, sie hat es ausgesperrt. Auf die politische Herausforderung haben Landesregierung und Gießener Uni in der banalen Logik der Verwaltung reagiert.
Das ist die zentrale Lehre aus dem Lucky Streik des vergangenen Jahres: Der Protest wurde von den Institutionen des politischen Systems nicht aufgenommen. Die Forderungen der Studierenden werden bis heute praktisch nirgendwo ernsthaft diskutiert, weder in Parteien noch Verbänden. Der verständliche Wunsch, in die gesellschaftlichen Institutionen hineinzugelangen, wurde von diesen massiv abgeblockt. Als sich das im Dezember des vergangenen Jahres abzeichnete, brachen die Proteste ab. Die Studierenden standen vor der paradoxen Situation, daß sie nun jene Institutionen hätten bekämpfen müssen, in die sie doch nur hinein wollten.
Hinter jeder Bildungspolitik steht eine bestimmte Gesellschaftsvorstellung. In Deutschland fehlt der öffentlichen Debatte über Bildungspolitik aber diese Dimension. Sie konzentriert sich fast vollständig auf rein betriebswirtschaftliche Reformvorschläge für die bestehenden Bildungsinstitutionen.
Die deutsche Gesellschaft hat es bis heute verpaßt, eine politische Debatte darüber zu führen, wie das Bildungssystem auszusehen hat, das einer demokratischen Gesellschaft angemessen ist, die von Problemen wie struktureller Massenarbeitslosigkeit, Veränderungen von Berufslebensläufen und der Formen des Zusammenlebens bestimmt wird. Der demokratische Prozeß wird im Gegenteil durch Verwaltungsvorgänge ersetzt. Politik findet also gar nicht statt.
Es ist nun schwer abzuschätzen, wie die protestierenden Studierenden des letzten Jahres weiter reagieren werden. Die politischen Institutionen sind ihren demokratischen Aufgaben nicht nachgekommen. Vertrauen in die Demokratie ist dadurch sicher nicht gestärkt worden. Georg Brandt
Der Autor lehrt politische Bildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen
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