Löhne: Falsche Zahlen, richtiger Alarm
Arbeitnehmer profitieren seit Jahren nicht vom Aufschwung. Das hat nun auch "Bild" bemerkt - und beschreibt es mit völlig falschen Daten.
Ein völlig neuer Skandal? So klang es jedenfalls gestern in den Medien: Die deutschen Beschäftigten würden heute noch weniger verdienen als vor zwanzig Jahren! Wie neue Zahlen aus dem Bundesarbeitsministerium zeigten, hätten die Arbeitnehmer 1987 nach allen Abzügen preisbereinigt 1.339,77 Euro im Monat bekommen - 2006 seien es real nur noch 1.320,42 Euro gewesen. Prompt fragte die Partei Die Linke hämisch, "was muss noch passieren, damit sich die SPD wieder auf ihre Wurzeln besinnt?" Und die Gewerkschaften sahen sich darin bestätigt, dass sie höhere Löhne fordern müssen.
Mindestlöhne können Lohndrückerei zwar einschränken, aber nicht verhindern. Dies zeigt sich insbesondere in der Baubranche. Bis zu 150.000 Bauarbeitern werde der tarifliche Mindestlohn vorenthalten, schätzt der Chef des Zentralverbands des Baugewerbes, Hans-Hartwig Loewenstein. Hinzu kämen viele Beschäftigte, die den niedrigeren Ost-Lohn erhielten, obwohl sie auf Baustellen im Westen arbeiteten, sagte Loewenstein der Frankfurter Rundschau. In Deutschland gibt es nach Jahren eines massiven Stellenabbaus in der Branche noch rund 700.000 Bauarbeiter. Der tarifliche Mindestlohn im Bauhauptgewerbe liegt derzeit nach Angaben der IG BAU für ungelernte Arbeiter im Westen bei 10,40 Euro pro Stunde, im Osten bei 9 Euro. Fachkräfte erhalten 12,50 Euro im Westen und im Osten. Im Abbruch- und Abwrackgewerbe erhalten Hilfskräfte 9,49 Euro im Westen und 8,80 Euro im Osten; Fachwerker bekommen etwas mehr. Auch solche Löhne lassen sich umgehen: Eine - eher riskante - Möglichkeit ist, illegal Beschäftigte einzusetzen; eine andere ist, legal Beschäftigten Teile ihres Lohnes vorzuenthalten, etwa indem Überstunden nicht bezahlt werden. Zwar könnten die Beschäftigten dagegen klagen, das scheuen aber viele, da sie um ihren Job fürchten.
Die "neuen" Zahlen wurden gestern von der Bild-Zeitung verbreitet. Allerdings sind sie nicht so neu: Sie entstammen dem "Statistischen Taschenbuch", das vom Bundesarbeitsministerium jährlich erstellt wird. Die letzte Ausgabe für 2007 erschien bereits im Juni. Vor allem aber zeigt die Aufregung rund um die "neuen" Zahlen mustergültig, wie schwer es ist, volkswirtschaftliche Statistiken zu deuten. Die Bild-Zeitung hat zwar den richtigen Trend beschrieben - aber mit den völlig falschen Daten.
So wurde ein Hinweis übersehen, der direkt über der Tabelle der Nettorealverdienste prangt: Die Zahlen werden "je beschäftigten Arbeitnehmer" erhoben. Da zählt jeder, der irgendwie tätig ist - vom Mini-, Midi- und 1-Euro-Job angefangen. Es werden also nicht nur reguläre Vollzeitstellen berücksichtigt. Die Teilzeitquote hat jedoch extrem zugenommen. Fast die Hälfte aller Frauen arbeitet reduziert.
Anders ausgedrückt: Pro Kopf mag der reale Nettoverdienst seit 1987 nicht mehr gestiegen sein - nur wird pro Kopf eben auch deutlich weniger gearbeitet. Mit einer Tabelle "je beschäftigten Arbeitnehmer" kommt man also nicht mehr weiter, obwohl sie seit 1950 erhoben wird. Damals war der vollbeschäftigte Alleinverdiener die Regel, heute ist er es nicht mehr. Zudem hat die Bild-Zeitung ausgeblendet, dass 1986 nur Zahlen für Westdeutschland verfügbar waren - seit 1991 aber Gesamtdeutschland in die Erhebungen eingeht.
Verlässlicher sind daher die Modellrechnungen, die das Statistische Bundesamt mühsam angefertigt hat. Sowohl für vollbeschäftigte Singles wie für Familien wird in verschiedenen Branchen nachgerechnet, wie sich deren Nettoverdienste entwickelt haben. Ergebnis: 1991 hat ein angestellter Single in Westdeutschland 1.363,60 Euro netto im Monat verdient - also ohne Steuern und Sozialabgaben. 2006 waren es 1.949,08 Euro. Das sieht zunächst wie eine rasante Steigerung aus. Doch tatsächlich hat in der gleichen Zeit auch die Inflation deutlich zugelegt. Real hat der angestellte Single in 15 Jahren nur rund 140 Euro netto hinzugewonnen.
Die Arbeitnehmer haben also kaum vom Wirtschaftswachstum der letzten 15 Jahre profitiert. Stattdessen expandierten die Gewinne der Unternehmer. "Hier gibt es eine deutliche Unwucht", ließ das Bundesarbeitsministerium am Montag verlauten und rechnete vor, dass die Lohnquote in den letzten zehn Jahren um 4 Prozentpunkte gesunken sei. Die Lohnquote misst den Anteil der Gehälter am Volkseinkommen.
Kämpferisch forderte das SPD-geführte Arbeitsministerium gestern, dass "die Einführung von Mindestlöhnen unabdingbar" sei. Bei diesem Thema bahnt sich neuer Streit an: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat angedeutet, dass sie sich mit den Post-Konkurrenten treffen könnte. Diese wollen verhindern, dass der Mindestlohn für Postzusteller auch tatsächlich eingeführt wird. Das Kabinett hatte am vergangenen Mittwoch eigentlich beschlossen, für Briefträger einen Mindestlohn von bis zu 9,80 Euro vorzuschreiben.
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