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Archiv-Artikel

Lob des Nichtstuns KOMMENTAR VON ULRIKE HERRMANN

Man hätte es Kanzlerin Merkel und Arbeitsminister Müntefering nicht zugetraut, aber nun scheint es fast so, als wären sie famose Ökonomen. Schließlich sinkt die Zahl der Arbeitslosen, und die Steuereinnahmen steigen. Fragt sich nur noch, was die beiden eigentlich in ihrer einjährigen Amtszeit getan haben, um diesen Aufschwung zu stimulieren? Die Antwort: nichts.

Natürlich gab es unerträgliche Debatten, zum Beispiel über die Gesundheitsreform, die aber bisher nur dazu dienten, Tatkraft zu simulieren. Und es gab auch schon Beschlüsse wie etwa zur Rente mit 67, doch diese Langfristreform beginnt erst 2012. Fürs Hier und Jetzt hat die Regierung überhaupt nichts entschieden. 2006 war das erste reformfreie Jahr in diesem Jahrtausend. Noch nicht einmal die Schulden wollte die Regierung in diesem Jahr senken. Frisch an der Macht, fürchtete sich das Kabinett vor drastischen Kürzungen, denn die unvermeidlichen Konflikte waren abzusehen. Also nahm man einfach hin, dass 2006 weitere Kredite in Rekordhöhe nötig würden. Doch seltsam: Die erwarteten Defizite sind nicht eingetreten. Stattdessen kann die Regierung die Neuverschuldung reduzieren. Offenbar hat es Wirtschaft und Arbeitnehmern sehr gut getan, dass sie von der Regierung in Ruhe gelassen wurden.

Deutschland scheint falsch konditioniert zu sein: Reformeifer wird stets gewürdigt und umgekehrt nichts so geschmäht wie der „Reformstau“. Exkanzler Schröder hat schnell gelernt, dass seine „ruhige Hand“ nicht gefragt war. Er hat sich dann in den Aktionismus der Agenda 2010 gestürzt. Schon dieser Titel sagte alles: Wichtig war nicht das Ziel, sondern lediglich das Agieren.

Aus dem ökonomischen Überraschungserfolg der großen Koalition lässt sich lernen, dass keine Reform besser ist als eine schlechte. Einen Adressaten für diese Lektion gibt es schon: die große Koalition selbst. Schließlich will sie im nächsten Jahr unbedingt die Mehrwertsteuer erhöhen, obwohl alle prognostizieren, dass dies Wachstumsprozente kostet. Für Merkel wäre es an der Zeit, sich an die Machtmaschine Kohl zu erinnern. Der große Aussitzer wusste, dass Nichtstun manchmal die bessere Alternative ist.