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Literatur Vor der Buchmesse: Warum Jenny Erpenbecks aktueller Roman „Gehen, ging, gegangen“ über einen emeritierten Professor und eine Gruppe Flüchtlinge tatsächlich das Buch der Stunde istFremde sind wir uns selbst

Von Dirk Knipphals

An einer Stelle des Romans „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck, aus dem man, wenn man ihn mit ein wenig Abstand liest, wirklich viel über die deutsche Gegenwart erfahren kann, ist vom Schloss Bellevue die Rede. Aber die Autorin schreibt nicht einfach „Schloss Bellevue“. Sie schreibt vom „Schloss Bellevue, in dem der deutsche Bundespräsident residiert“. Warum erklärt sie das? Und vor allem: Wem erklärt sie das?

Literarisch ist das im Grunde ein Fauxpaus, zumal in einem Roman, der sonst auf handwerkliches Gutgemachtsein wert legt. So wie Jenny Erpenbeck das macht, wirkt es so, als ob der Erzähler aus den Kulissen tritt, um mal kurz den Text zu erläutern.

Und die Stelle ist längst kein Einzelfall. An anderer Stelle heißt es, „dass in Deutschland, gerade mal ein Lebensalter entfernt, das fabrikmäßige Ermorden von Menschen erfunden wurde“. Und an einer weiteren Stelle fällt die hübsche Formulierung „in blondgescheiteltem Deutsch“, was sich als Hinweis darauf lesen lässt, dass Deutsche sich manchmal von sich selbst distanzieren. Kurz, Jenny Erpenbeck schreibt in diesem Roman teilweise so, als ob ihre Leserinnen und Leser Deutschland nicht kennen.

Das macht diesen Roman erst richtig interessant. In ihm erzählt Jenny Erpenbeck von einem emeritierten Professor mit DDR-Vergangenheit, der sich einer Gruppe von Flüchtlingen annähert, die sich, je näher er ihnen kommt, allmählich in individuelle Einzelpersonen auflöst. Zumal inmitten der aktuellen Flüchtlingsdebatte liest man das zunächst beinahe automatisch als – wohlmeinende – literarische Intervention, um Verständnis für die missliche Lage der Geflohenen aufzubringen. Während des Lesens aber spielt man dann auch mit einer anderen Leseart: Was, wenn Jenny Erpenbeck nicht „uns“ die Flüchtlinge erklärt, sondern umgekehrt den Flüchtlingen die Deutschen und Deutschland?

Vor allem die Hauptfigur des Romans kann in so einer Lesart geradezu zu einer Kippfigur werden – zwischendrin wird er zu dem eigentlichen Fremden. Aus seiner Perspektive wird so nah erzählt, dass er immer nur mit dem Vornamen genannt wird, Richard. Zugleich vermittelt Jenny Erpenbeck aber, wie im Weltmaßstab unwahrscheinlich und im Grunde seltsam so ein materiell abgepuffertes Leben, das er führt, ist. Nach dem Tod seiner Frau lebt er in einem Riesenhaus an einem See (in dem eine Wasserleiche schwebt, von einem Ertrunkenen, der nie gefunden wurde). Er hat alles, es geht ihm gut. Nur hat er nach seiner Pensionierung keinen Lebenssinn mehr – weshalb er sich für die Flüchtlinge engagiert.

Awad, einer der Flüchtlinge, erzählt ihm einmal vom Krieg in seiner alten Heimat: „Mein Vater ist tot, sagt er. Und ich – ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“ Richard kommentiert das für sich selbst: „Ein Fremder werden. Sich selbst und den andern. So also sah ein Übergang aus.“ Was dann genauso gut das Leben Awads wie sein eigenes Leben betrifft.

Das spätestens sind Szenen, bei denen einem der Titel eines Buches von Julia Kristeva einfallen kann, der lange schon diskutiert wurde, bevor in der aktuellen Situation die Debatte über das Fremde und das Eigene die ganze deutsche Gesellschaft erfasste: „Fremde sind wir uns selbst“.

Aufgrund seines Flüchtlingsthemas wird Jenny Erpenbecks Roman als Buch der Stunde gehandelt. Seine zentrale Figur Richard, die sich selbst fremd wird, ist aber mindestens genauso entscheidend. Sie passt gut hinein in ein literarisches Herbstprogramm, in dem viele der Bücher, die über das routinierte Programmdurchforsten hinaus für Aufsehen sorgen, gesteigerte Orientierungsbemühungen vorführen.

Karl Ove Knausgård macht in seinem „Min Kamp“-Projekt, dessen fünfter Band kürzlich erschienen ist, im Grunde nichts anderes. Wobei sein autobiografisches Projekt Orientierungsbemühungen nicht nur beschreibt, sondern vielmehr selbst eine Orientierungsbemühung ist. Und auch die kühlen Beobachtungen, die Michael Rutschky in seinem Achtziger-Jahre-Tagebuch „Mitgeschrieben“ anstellt, werden durch den intellektuellen Motor angetrieben, sich in einer fremden Umgebung, dem Alltag, verstehend orientieren zu müssen.

Von der jeweiligen Anmutung und vor allem der jeweiligen Radikalität dieser beiden Buchprojekte ist Jenny Erpenbeck natürlich ganz weit weg. Aber zumindest kann man sich vorstellen, dass ihre Hauptfigur Richard, wenn sie nicht diesen Altphilologiespleen hätte, den Erpenbeck ihr mitgegeben hat, zu Knausgård und Rutschky eine untergründige Verwandtschaft spüren würde.

Interessant ist es auch, diesen Richard zu Jochen Brockmann in Beziehung zu setzen, dem Investmentmanager in der Sinnkrise, den der Schriftsteller Ulrich Peltzer zur Hauptfigur seines aktuellen Romans „Das bessere Leben“ gemacht hat (mit dem Erpenbecks Buch am Montag um den Deutschen Buchpreis konkurrieren wird, beide stehen auf der Shortlist).

Was, wenn sie nicht „uns“ die Flüchtlinge erklärt, sondern die Deutschen den Flüchtlingen?

Dieser Jochen Brockmann ist dabei die viel schillerndere Figur. Dass er sich selbst fremd ist, ist eh klar. Ulrich Peltzer spiegelt sein Leben sozusagen in den glatten Glasfassaden des globalisierten Finanzkapitalismus und lässt ihn, wie es an einer Stelle heißt, „in die Wirklichkeit stürzen wie ein Leser in die Seiten eines Buches“. Grob lässt sich sagen: Mit seiner Hauptfigur im Schlepptau zeigt Peltzer das Funkeln der vielen Scherben, aus denen sich das Bild einer Fremdheit produzierenden Epoche zusammensetzt. Jenny Erpenbeck dagegen setzt um einiges tiefer gehängt an, bei alltäglichen Identifikationsangeboten mit ihrem emeritierten Professor.

Das Sich-selbst-fremd-Fühlen scheint aber jedenfalls ein, wenn auch untergründiges, so doch zentrales Motiv dieses Bücherherbstes zu sein. Es gibt allerdings eine ganz entscheidende Differenz. Während Knausgård, Rutschky und auch Peltzer von der Fremdheit ihrer Protagonisten ausgehen und verschiedene Strategien vorführen, mit ihr umzugehen, lässt Jenny Erpenbeck ihren Richard seine eigene Fremdheit allererst entdecken.

Anders formuliert: Ihm ist seine eigene Fremdheit noch fremd. Er ist erst mitten drin, zu begreifen, dass auch das Eigene stark erklärungsbedürftig ist. Und er muss erst noch lernen, gut mit dieser Situation umzugehen: keinem verlorenen Identitätskonzept hinterherzutrauern nämlich und sich – mit dem Engagement für die Flüchtlinge – ein Projekt zu suchen, mit dem er seinem Leben selbst einen Sinn geben kann.

Es ist genau dieser Aspekt, der „Gehen, ging, gegangen“ diese leicht pädagogische Anmutung gibt – und gleichzeitig aber doch zu so etwas wie dem Roman der Stunde macht. Man hat ja den Eindruck, dass die gesamte deutsche Gesellschaft (mit Ausnahme von Botho Strauß) gerade dabei ist zu entdecken, dass das Eigene und das Fremde zusammenhängen und, vor allem, dass hinter beiden Begriffen individuelle Schicksale stehen.

Bei Jenny Erpenbeck kann man sich dessen versichern.

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