Linkspartei nach der Wahl: Der neue sozialistische Realismus
Die neue Fraktion ist größer als je zuvor, hat mehr Frauen als Männer, viele Pragmatiker, einige Radikale und etliche, die irgendwo dazwischen stehen.
Schon wenige Tage nach der Wahl ist klar: Die SPD will ein linkeres Programm und die Abgrenzung von der Linkspartei beenden. Doch wie reagiert diese darauf? Wird sich diese neue, größere, selbstbewusstere Linksfraktion, die immerhin halb so groß ist wie die SPD, in Fundamentalopposition einrichten oder Brücken zu SPD und Grünen bauen? Wenn, so viel lässt sich bereits sagen, eine rot-rote Annäherung möglich ist, dann in gemeinsamen Landesregierungen und hier - auf der Oppositionsbank.
Dort sitzen auch Sahra Wagenknecht und Ulla Jelpke, die Wortführerin des radikalen Flügels. Beide sind über die Landesliste NRW in den Bundestag gekommen. Nirgends sind die Fundis so stark wie in Nordrhein-Westfalen. Wagenknecht versucht die Fraktion schon mal vorab gegen rot-rot-grüne Versuchungen zu immunisieren. "Wir müssen weiterhin konsequent Politik gegen sozialen Kahlschlag und neoliberale Gelüste machen", sagt sie der taz. Und: "Rot-Rot-Grün wäre nur mit einer völlig erneuerten SPD möglich." Ohne Abschaffung von Hartz IV und sofortigen Abzug aus Afghanistan geht mit der Linkspartei "unter Garantie" nichts.
Doch ganz so klar ist das Bild selbst in der Landesgruppe NRW nicht. Sechs Parlamentarier gehören der radikalen Antikapitalistischen Linken (AKL) an, fünf der Sozialistischen Linken (SL), die sich zwischen AKL und Pragmatikern verortet. Die Radikalen hatten in NRW die vorderen Listenplätze erobert. Doch wegen des Erfolgs bei der Bundestagswahl haben es auch ein paar Moderatere von hinteren Listenplätzen in den Bundestag geschafft.
Dieser Befund gilt nicht nur für Abgeordnete aus NRW, sondern beispielsweise auch für Raju Sharma aus Kiel. Dieser arbeitet in der Staatskanzlei von CDU-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen. Als er kürzlich für den Job des Oberbürgermeisters in Kiel antrat, lobte sein SPD-Konkurrent Sharma als "angenehm und intelligent". Oder für Richard Pitterele aus Baden-Württemberg, ein seltenes Exemplar eines Westlinken, der dem pragmatischen, von Ostlern geprägten Forum demokratischer Sozialismus (FdS) angehört. In dieser Fraktion, sagt Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch heiter, "muss ich aufpassen, nicht rechts überholt zu werden."
Auch Fundis wie Ulla Jelpke, die Annäherungsversuche an die SPD unter Generalverdacht stellen, halten die Realos für keine unüberwindlichen Hürden auf dem Weg zu Rot-Rot-Grün . "Wenn Jelpke sich auf ihr Gebiet, Innen- und Rechtspolitik, konzentriert, ist alles in Ordnung", sagt ein Abgeordneter der Pragmatiker. Schwierig werde es nur, wenn die Fundis mit "großen Politikentwürfen" hantierten.
Doch die parlamentarische Arbeit verändert auch die Linksradikalen. Wer in Parlamentsausschüssen mitarbeite, sagt eine Reformerin aus dem Bundesvorstand, könne "dort nicht bloß ideologischen Stuss verbreiten". Wagenknecht interessiert sich für den Wirtschaftsausschuss.
Neu ist, dass die Fraktion weiblicher geworden ist - sie besteht aus 40 Frauen und 36 Männern. Und dass 16 Parlamentarier Direktmandate geholt haben. Manche dieser Abgeordneten gehören formal keinem Flügel an - aber sie werden die Fraktion in Richtung Realpolitik verändern. "Viele kommen aus der Kommunalpolitik, sind bodenständig und wissen aus eigener Erfahrung, wie Gesetze wirken", so Dagmar Enkelmann. Sie war bisher parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, in Brandenburg hat sie ein Direktmandat gewonnen.
Caren Lay, eine Führungsfigur des FdS, hält es für ein klares Zeichen, dass Dreißigjährige wie Jan Korte und Stefan Liebich Direktmandate geholt haben. Beide wollen keine "reine Fundamentalopposition, sondern gestalten". Das blendende Resultat im Osten, so Lay, widerlege die Mär, dass ein pragmatischer Kurs der Linkspartei bei Wahlen schadet. In Berlin, wo rot-rot regiert, hat die Linkspartei zugelegt. "Die Wähler", so Lay, "respektieren, dass die Linke konstruktiv Politik macht." Darum könnten die Reformer mit "neuem Selbstbewusstsein auftreten".
Diese Lesart des Erfolges passt dem Fundiflügel nicht. "Wir haben", so Wagenknecht, "dieses gute Wahlergebnis nur bekommen, weil wir so entschieden gegen neoliberale Politik und die Auswüchse des Kapitalismus aufgetreten sind."
Die letzte Linksfraktion war ein Laboratorium für die Fusion von WASG und PDS, von West- und Ostlinken. Harte ideologische Kontoversen gab es wenig. Das kann sich nun ändern. Die Flügelkämpfe, fürchtet eine Ostpragmatikerin, werden in dieser Fraktion "mit Wagenknecht und Liebich zunehmen." Außerdem will die Linkspartei ihr lange angekündigtes Grundsatzprogramm in Angriff nehmen. Dabei werden innerparteilich die Fetzen fliegen. Denn dann wird die lange von Wahlerfolgen und Fusionsstress verdrängte Frage auf die Tagesordnung gesetzt: Will die Linkspartei regieren oder ewige Opposition bleiben?
Für Rosemarie Hein, die in Magdeburg ein Direktmandat geholt hat, ist die Antwort klar: "Wenn man etwas bewegen will, muss man Kompromisse machen." Und für Rot-Rot-Grün müssten sich natürlich alle drei Parteien bewegen. Dies würden, so Hein, auch die sich noch radikal gebärdenden Westlinken lernen. "Wo die Linkspartei in den Landtagen sitzt, geht dieser Prozess rasant voran", sagt Hein. "Denn die Wähler erwarten Konstruktives - Veränderung kommt nicht durch Verweigerung."
Dass diese Erkenntnis auch an der Basis reift, hat sie erfahren, als sie 2008 durch die alten Bundesländer tourte, um die Westgenossen in der Kitapolitik zu beraten. "Da ging es sehr schnell um sehr konkrete Dinge", sagt Hein, "beispielsweise, welche Anträge man im Gemeindeparlament stellen kann, wenn die Kitasituation verbesser werden soll."
Die Chance, dass diese Linksfraktion zu realpolitischen Dehnungsübungen in der Lage ist, gibt es. Sie ist sogar größer als in den letzten vier Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend