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Archiv-Artikel

Liebe dich selbst

Aids und Medikamente

Im südlichen Afrika leben zirka 25 Millionen HIV-Infizierte. Demografen gehen davon aus, dass in den am stärksten von HIV betroffenen Ländern die durchschnittliche Lebenserwartung 2010 bis zu 30 Jahre weniger betragen wird. Derzeit liegt sie in Südafrika bei 49 Jahren.

Bei der Versorgung mit Aidspräparaten teilt sich die Welt in Arm und Reich. In den Industrienationen sorgen Medikamente inzwischen dafür, dass HIV-Infizierte dennoch eine hohe Lebenserwartung haben. In Afrika, wo zwei Drittel aller HIV-Infizierten leben, erhält nur jeder achte Kranke Medikamente.

Vielfach kritisiert werden die hohen Preise, die die internationalen Pharmakonzerne für ihre patentierten Medikamente verlangen. Trotz drastischer Preissenkungen können sich afrikanische Länder den Einkauf von Aidsmedikamenten in großen Mengen selbst zu reduzierten Preisen nicht leisten. Eine Alternative ist die Produktion von Nachahmermedikamenten, sogenannten Generika. Indien, Thailand, Brasilien und Südafrika sind die wichtigsten Produzenten. HP

Nur Abstinenz kann südafrikanische Jugendliche wirklich vor einer Infektion mit dem Aidsvirus schützen, sagen die Verantwortlichen der Aufklärungskampagne LoveLife. Selbstbefriedigung soll das Liebesleben ersetzen

VON OLIVER KOERNER VON GUSTORF

„Ich will wissen, wer von euch Fußball spielt. Wer spielt hier Fußball? Wer will in unsere Nationalmannschaft?“, ruft Cheryl Carolus in die Menge. „Wir wollen, dass ihr 2010 am Leben seid!“ Klatschen und Lachen. Sie wird energischer. „Wir wollen nicht, dass ihr an Aids sterbt. Wir brauchen Leute, die stark sind, Leute die ihr Land lieben. Wir wollen, dass ihr fit seid für Bafana Bafana!“ Es herrscht Volksfeststimmung. Am Rand des staubigen Basketballfeldes, gleich neben Ehrengästen, Schulklassen und Mitgliedern der Stadtverwaltung, tanzt, umringt von johlenden Kindern, eine betrunkene Alte. Auf ihren verdreckten Socken ist das Weltmeisterschaftsemblem eingestickt. Ein warmer Wind weht von den mit Hütten übersäten Bergen herunter, streift über die Tribünen, rüttelt an den aufgestellten Papptafeln mit dem BMW-Logo, fährt durch neonfarbene Fahnen, auf denen in knallgrünen Lettern „LoveLife“ prangt: Das Leben lieben.

LoveLife ist die größte Aidsorganisation Südafrikas, die sich mit Kampagnen, Radiosendungen, Plakatwänden und Magazinen an Heranwachsende richtet und inzwischen landesweit siebzehn Präventionszentren eingerichtet hat, um den Jugendlichen beizubringen, wie sie ihr Leben nicht nur lieben, sondern retten können. In diesem Land, in dem sechs Millionen Menschen positiv sind, in dem jeden Tag bis zu tausend Menschen an den Folgen von Aids sterben und sich täglich zwischen tausendfünfhundert und zweitausend neu anstecken, beträgt die Wahrscheinlichkeit, sich mit HIV zu infizieren, für einen 15-Jährigen fünfzig Prozent. Um das zu ändern, investiert LoveLife als Treuhandgesellschaft jährlich annähernd 16 Millionen Euro, von denen sechzig Prozent aus staatlichen Geldern und vierzig Prozent aus privaten Stiftungen stammen. Man hat sich ganz offensiv einer Mission verschrieben. Und die wird seit diesem Oktober auch in einer Reality-Show auf dem Sender SABC 1 vorgelebt. Über zwei Millionen Zuschauer in dreißig Ländern folgen drei jugendlichen Teams aus ganz Afrika, die sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen. Dabei geht es um Intelligenz, Strategie, Ausdauer. Und letztlich um eine viel elementarere Leistung: den langen Weg zur „HIV FREE GENERATION“ zu meistern.

In ihrem Auftreten wirkt Carolus als Vorsitzende des LoveLife Trust durchaus volksverbunden, aber immer Respekt einflößend. Wohl niemand anders als die resolute Endvierzigerin verkörpert so gut, was gerade auf dem ganzen Kontinent im Kampf gegen HIV propagiert wird: „Leadership“. Unter ärmlichsten Verhältnissen in einem Township am Kap aufgewachsen, gehört sie heute zu den Leitfiguren im neuen Südafrika: eine der mächtigsten Geschäftsfrauen der Nation, Politikerin, Aktivistin, ehemalige Generalsekretärin des ANC, Inhaberin einer eigenen Investmentfirma. Und sie weiß, wie man die Leute hier im Township erreicht – mit einer klaren Sprache, in der stets ein Hauch von Ironie mitschwingt. So auch bei ihrem Dank an die Bayerischen Motorenwerke, die hier in Knysna erstmals als ein nicht afrikanischer Sponsor den Neubau des jüngsten LoveLife-Jugendzentrums mit 200.000 Euro finanzierten: „Einfach jeder fährt gerne BMW“, sagt sie und guckt bedeutungsvoll ins Publikum, „manche Leute verdienen ein Heidengeld, um BMW zu fahren.“ Pause. „Und wisst ihr, was so toll ist? Wenn BMW kommt und sagt: Es ist so wichtig, dass es den Gemeinden gut geht, da, wo wir unsere Autos verkaufen. Es ist toll, dass sie wollen, dass diese Gemeinden zu der neuen Generation Südafrikas gehören. Und ich möchte mich bei einer guten Marke wie BMW bedanken, dass sie an diese Gemeinde glauben.“

An diese Gemeinde glauben? Als ich gestern mit einer Gruppe von Journalisten in einem Kleinbus die weltberühmte Garden Route durch die Lagunenstadt Knysna entlangfuhr, hätte ich auf Anhieb keine Schwierigkeiten damit gehabt. Die Landschaft hier mutet an, als hätte sich Gott eine bessere Version von Kalifornien ausgedacht, nur dass die Namen auf den Wegweisern burisch klingen: Noetzie, Rheenendal, Buffelsbai. Türkisblau brandet der Ozean in atemberaubend schöne Sandbuchten, über Gebirgsketten erstrecken sich üppig grüne Urwälder, in denen wilde Elefanten leben. Links und rechts der Straße adrette Blockhäuser, Luxusressorts, die etwas untertrieben „Lodges“ heißen, Edelrestaurants und einige der teuersten Feriendomizile der Welt. Aus dem Autofenster sieht dieses Urlaubsparadies so aus, wie sich ein Beach-Boy-Song anhört. Wären da nicht hier und da diese armseligen Hüttensiedlungen oder die schwarzen Männer und Frauen, die einsam mit Taschen oder Kindern auf dem Arm die N2 entlanglaufen. Tatsächlich ist Knysna mit seinen 60.000 Einwohnern eine der ärmsten und reichsten Gemeinden zugleich in Südafrika, zu deren Spezialitäten neben Austern auch Aids gehört. Während unten in der Lagune Jachten ankern und sich Prominente wie der Schweizer Tennisspieler Roger Federer an den Hängen Villen im italienischen Stil erbaut haben, muss man nur einen halben Kilometer über die nächste Bergkuppe in eine Township wie Concordia fahren, um zu erleben, wie die andere Seite dieser Vorzeigestadt aussieht.

Über dreißigtausend Menschen leben hier und in den anliegenden Bezirken in völliger Armut, in provisorisch zusammengehauenen Hütten, meist ohne Wasser und ohne Kanalisation. Gerade hat die Gemeinde die ersten zwanzig von dreitausend geplanten neuen Betonhäuschen fertiggestellt. Das ist Sisyphusarbeit. Denn für jeden Neubau schießt hier, wie auch in den benachbarten Townships, täglich ein Vielfaches der illegal hochgezogenen „Shacks“ aus dem Boden. Zwar beträgt die Arbeitslosenrate in Concordia 75 Prozent, doch selbst die geringste Chance auf einen noch so schlecht bezahlten Job in der Holzindustrie oder in einer der vielen Hotelanlagen zieht Verwandte und Tagelöhner aus armen Nachbarländern wie Malawi oder Simbabwe an. Und die Seuche wandert mit. „Aids auf Rädern“ nennt man das in Bezug auf die Fernfahrerbranche, in der nach Schätzungen des Aidshilfsorganisation Hope achtzig Prozent der Fahrer positiv sind. Und wie auch im Bergbau oder im boomenden Wirtschaftsknotenpunkt Johannesburg ist Migration der größte Multiplikator des HIV-Virus, das in einem Umfeld rapider Verstädterung und raschen, unkontrollierten sozialen Wandels bestens gedeiht. Nicht die ärmsten Landstriche bilden den optimalen Nährboden dafür, sondern gerade jene Orte, an denen die Schere zwischen Arm und Reich extrem auseinanderklafft.

Wie absurd dieser Widerspruch ist, versinnbildlicht auch der Standort des jüngsten LoveLife-Y-Centers in Concordia. Dort, wo kaum jemand eine Perspektive hat, wo rund ein Zehntel der Bevölkerung und nach jüngsten Schätzungen die Hälfte aller Frauen HIV-positiv sind, bietet sich ein grandioses Panorama auf Lagune und Meer, für das so mancher Hotelinvestor seine Mutter verkaufen würde. Und genau dieses trügerische Missverhältnis will der 42-jährige LoveLife-Direktor David Harrison ändern. Auch Harrison, der aus einem aufgeklärten calvinistischen Elternhaus stammt und dessen Vater, ein engagierter Apartheidgegner, als erster weißer Lehrer an einer rein schwarzen Schule unterrichtete, geht es um weit mehr als die bloße Propagierung von Kondomen. Wenn er vor den Jugendlichen über die Hoffnung auf den Aufbau einer neuen Gesellschaft spricht, in der die Reichen nicht mehr am Fuß der Hügel und die Armen „on the top“ leben, klingt Zorn in seiner Stimme mit. Der einzige Weg, diese Kluft zu überwinden, ruft er, seien Bildungsangebote und Chancen für alle Jugendlichen. Und er wird noch zorniger: „Einige von euch werden heute noch nichts in den Magen bekommen haben. Ihr seid hungrig. Ich weiß, dass viele von euch müssen kämpfen, um zur Schule zu gehen, weil das nicht bezahlbar ist. Ich weiß, dass viele von euch zu Sex gezwungen werden. Ich weiß, dass einige eurer Väter sich am Wochenende betrinken und euch missbrauchen. Das sind die Probleme, mit denen Jugendliche in Südafrika heute umgehen müssen.“ Als er fortfährt, er könne weder versprechen, dass die jungen Zuhörer einen Job kriegen, noch, dass sie nicht vergewaltigt werden, wird es für einen kurzen Augenblick still im Publikum.

Vielleicht fragen sich gerade auch die anderen von BMW eingeladenen Journalisten, wie das für die Teens und vor allem die Mädchen sein muss, so etwas durch die Lautsprecheranlage zu hören und zu wissen: Damit bin ich gemeint. Man brauche nur einige Meter von der Garden Route abzubiegen, um mitten im Dilemma Afrikas zu stecken, hat ein Kollege gesagt. Und tatsächlich sind wir gerade mittendrin in diesem Dilemma, denn auf gewisse Weise sind wir nichts anderes als Aidstouristen, die aus Deutschland mit Businessclass eingeflogen wurden, um über das soziale Engagement von BMW zu berichten. Mit dem Vorsatz, auf einer nur viertägigen Reise menschliches Elend möglichst authentisch einzufangen oder gar eine Bestandsaufnahme der Situation zu wagen, verbindet sich eine ähnliche Neugier auf Fremdes und Exotisches, die auch den üblichen Township-Tourismus ankurbelt. Statt Blechspielzeug sammeln wir Statements, Metaphern, Eindrücke.

Während die meisten von uns noch nie in Südafrika gewesen sind, kennen wir die Hürden, die Afrika auf dem Weg zur HIV FREE GENERATION nehmen muss, lediglich aus den Zeitungen: „Aidsdissidenten“, die weiter daran festhalten, dass nicht ein Virus diese Pandemie verursacht, sondern lediglich die Kombination aus Armut, Umweltverschmutzung und Unterernährung. Ein Präsident wie Thabo Mbeki, der schulmedizinische Aidsthesen als Produkt „rassistischer Überzeugungen und eines rassistischen Blicks auf Afrika“ ablehnt. Eine Gesundheitsministerin, die bis vor kurzem Rote Bete und Knoblauch als wirksamen Schutz gegen Aids propagierte. Volkstümliche Mythen, die besagen, der Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau oder Waschungen mit Cola würden Aids heilen. Pharmakonzerne, die an Patentrechten festhalten und verhindern, dass Aidsmedikamente als billigere Derivate erhältlich werden. Eine Regierung, die zwar gerade eines der weltweit größten Programme für die Verteilung dieser Medikamente beginnt, deren Gesundheitspolitik aber nach wie vor unkoordiniert und nicht transparent ist.

Inmitten dieser undurchschaubaren und widersprüchlichen Verhältnisse gilt es, gerade im Bereich der Prävention deutlich Haltungen und Botschaften zu vermitteln, Perspektiven zu eröffnen, die auch ein Jugendlicher aus den Townships versteht. Warum soll jemand, der mit großer Wahrscheinlichkeit ein Opfer von häuslicher Gewalt, Verbrechen oder Vergewaltigung wird, der weder Aussicht auf Bildung noch auf Arbeit hat, sich tagtäglich bewusst mit einer Krankheit auseinandersetzen, die ihn vielleicht erst in zehn Jahren umbringt? Wie soll eine Fünfzehnjährige, die von ihrem Freund geschlagen wird, wenn sie keinen Geschlechtsverkehr will, oder finanziell von einem viel älteren Freier abhängig ist, der von ihr unsafen Sex verlangt, in der Lage sein, über Kondome zu verhandeln? Hier setzt LoveLife an – mit der Aufforderung, Teil der LoveLife-Generation zu werden, die sich selbst in die Lage versetzt, über ihre Probleme zu sprechen, zu handeln, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.

Das Menschenbild, das mit tausenden von jugendlichen Mitarbeitern, in über viertausend Schulen, in Kliniken, Krankenhäusern und den eigenen Jugendzentren propagiert wird, ist von klaren Prinzipien bestimmt: Männer und Frauen sind gleichwertig. Bleibe so lange wie möglich sexuell abstinent, zumindest so lange, bis du selbst entscheiden kannst, ob du eine Beziehung eingehen willst. Vermeide frühzeitige Schwangerschaften. Falls du bereits Geschlechtsverkehr hast, mache einen Aids- oder Schwangerschaftstest. Finde heraus, wo du Hilfe bekommst. Meide Drogen und Alkohol. Pflege einen gesunden Lebensstil. Zeige Verantwortung für dich und andere. Dann bist du ein LEADER.

Pharma und Patentstreit

Auch Medikamente genießen international Patentschutz. Ein Großteil der Aidsbehandlungen in armen Ländern findet jedoch mit Generika, also Nachahmermedikamenten, statt. Auch deshalb gibt es Bestrebungen, das Patentrecht für Aidsmedikamente aufzuweichen. Kanada ist weltweit das erste Land, das einem Pharmaunternehmen erlaubt hat, eine wirkstoffgleiche Kopie des patentgeschützten Aidsmedikaments TriAvir zu produzieren.

Kanada beruft sich dabei auf Ausnahmeregeln der Welthandelsorganisation (WTO), die 2003 vereinbart wurden. Demnach können Länder Generika von patentgeschützten Medikamenten auch in anderen Ländern produzieren lassen und diese importieren, wenn ihre öffentliche Gesundheit akut bedroht ist. Beide beteiligten Länder müssen ihre Zusammenarbeit der WTO melden. Das in Kanada hergestellte Medikament für die Aidstherapie soll nach Ruanda exportiert werden, das selbst nicht über Produktionsmöglichkeiten verfügt. Ruanda hatte im Juli 2007 der Welthandelsorganisation erklärt, es werde in den nächsten zwei Jahren rund 260.000 Packungen TriAvir importieren. HP

Und so sind die Jugendzentren von LoveLife gleichermaßen Rekrutierungsstationen, in denen Führungsqualitäten und kommunikative Fähigkeiten trainiert werden. Neben Tischtennis und Kicker werden Beratung, HIV-Tests und Computer- und Motivationskurse angeboten. Einer der größten Anreize ist es allerdings, innerhalb der LoveLife-Hierarchie aufzusteigen, eines Tages vom mpintshi (Freund) zum groundbreaker zu werden und dabei ein kleines Gehalt zu verdienen. Die Bemühungen, die Jugendlichen gezielt anzusprechen, scheinen, zumindest statistisch gesehen, zu fruchten. 2006 sank die Infektionsrate unter den Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen erstmals, während sie in den höheren Altersgruppen weiter steigt. Schon 2003 hatte sich in einer groß angelegten Untersuchung herausgestellt, dass die Ansteckungsrate unter den Teilnehmern an LoveLife-Programmen relativ niedrig ist.

Betrachtet man all die Kids, die an diesem Nachmittag, vorbei an den Securityleuten und dem Schild THIS IS A GUN AND DRUG FREE ZONE in das violett gestrichene Haus strömen, scheint die Vorstellung von einer aidsfreien Zukunft in Afrika vielleicht etwas näher gerückt. Doch was wäre, wenn da irgendwann einmal stünde: THIS IS AN AIDS FREE ZONE? Und was, frage ich mich, ist eigentlich mit den positiven Jungs und Mädchen, die gar nicht mehr die Chance haben, zur aidsfreien Generation zu gehören?

Als ich den 22-jährigen LoveLife-Mitarbeiter Bulelani Futshane darauf anspreche, was er denn einer 15-jährigen Mutter raten würde, die ins Zentrum kommt und die weder abstinent noch HIV-negativ ist, gibt er mir eine etwas ausweichende Antwort. Jeder habe die Chance, eine born-again virgin zu werden und man ermutige die Leute weiterhin zu sexueller Abstinenz. Auch das gehöre zur Prävention. Und dann redet er über die jungen Frauen, die bootylicious, also verführerisch sind, die für ältere Männer begehrenswert sind, die sie bezahlen, ihnen Handys kaufen. Und wenn diese Frauen krank oder schwanger sind und nicht mehr begehrenswert, dann verlieben sie sich vielleicht wirklich in einen Jungen, den sie dann mit HIV anstecken. „Und das passiert dann mir, der noch rein ist“, sagt er. „Ich weiß nicht, was dieses Mädchen durchgemacht hat. Ich sehe nur eine wunderschöne Frau. Ich fühle mich wohl und sicher mit ihr, und benutze kein Kondom.“ Auf den Einwand, er müsse doch sowieso eines benutzen, reagiert er etwas verlegen, das sei doch gleichermaßen die Sache des Mädchens.

Mich hinterlassen diese Sätze fassungslos, auch wenn ich weiß, dass jedes praktikable Mittel recht ist, um Leben zu retten. Die Leute von LoveLife tun sicher aus Überzeugung das Richtige, wenn sie die Jugendlichen zu Selbstrespekt und einem gesunden Lebensstil ermutigen. Dennoch erscheint das Konzept von Abstinenz und Jungfräulichkeit etwas realitätsfern zu sein, ebenso wie die Ermutigung zur Masturbation, „weil das der sicherste Sex ist den man haben kann“.

Als ich Futshane gegenübersitze, frage ich mich, was er wohl denken würde, wenn er wüsste, dass ich schwul und selbst positiv bin. Ich überlege kurz, es ihm jetzt zu sagen, vor all den anderen Journalisten und den Leuten von BMW. Aber ich schweige. Tage später, als ich in der Morgendämmerung aus dem Flugzeugfenster auf die Küsten Europas hinunterschaue, bin ich noch immer ratlos. Ich denke daran, dass es sich mit diesem Schweigen genauso verhält wie mit der sexuellen Abstinenz, die nicht unendlich verlängert werden kann. Egal wie schwierig oder gefährlich es ist, früher oder später werden wir sprechen müssen.

OLIVER KOERNER VON GUSTORF, Jahrgang 1961, lebt und arbeitet als freier Journalist und Kunstkritiker in Berlin