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LidokinoVollglück der Depression

■ Kunst, Wahrheit, Arbeitslosigkeit – und alles so schön gefilmt!

Scheint mal wieder an der Zeit, Listen zu erstellen. Zum Beispiel die Liste der Filme, die in der kaputtesten aller Welten spielen – und also die schönsten depressiven Bilder haben. Und die Liste der Filme, die einen am meisten deprimieren. Auf letzterer Liste muss Wes Cravens TV-Soap „Music of the Heart“ in der Reihe Sogni e Visioni als Nummer eins stehen. Nichts ist so deprimierend wie diese unheimlich optimistischen amerikanischen Du-kannst-es-schaffen-wenn-du-es-nur-willst-Filme. Und hat Meryl Streep nicht schon in viel zu vielen von ihnen mitgespielt? Muss sie jetzt fünfzig(!?) Geigen auffahren, um es ein weiteres Mal zu tun?

Sie sehen, es gibt einen großen Unterschied zwischen den Listen. Depressive Filme scheinen nämlich wiederum einige Leute echt glücklich zu machen. Wie zum Beispiel „Abendland“ von Fred Kelemen, die deutsch-holländische Koproduktion der Reihe Cinema del Presente. Kelemen gehört zu den „Einrahmern“ (Michel Chion). Die Einrahmer wollten entweder ursprünglich mal lieber Maler werden, oder sie glauben dem Zuschauer nicht, dass er in der Lage ist, richtig hinzuschauen. Deshalb präsentieren sie ihre schönen Bilder nicht nur auf dem filmischen Silbertablett, als da sei die große Blende statt des einfachen Schnitts oder das Stillstellen; nein, sie hauen ihm das schwere Teil gleich volle Kanne ins Gesicht. Hier ist ES! Kunst! Bedeutung! Schönheit! Wahrheit! Genie? Ganz bestimmt. Und was noch? Ach ja, Arbeitslosigkeit, Gewalt aus der Not heraus, ein Paar „irgendwo in Europa“ (wo freilich an allen Fabriktoren VEB steht), das auseinander driftet, in die Nacht, aber am Ende, da kriegen sie doch die Kurve.

Sollte man Harmony Korine, dessen „Gummo“ wirklich seinen verzwickten Charme hatte, mit dem jetzigen Dogma-95-Freak-Show-Film „Julien Donkey-Boy“ auf Platz zwei der Depri-Filme setzen? Na ja, vielleicht ist Werner Herzog als Vater der Korineschen Filmfamilie, die ebenfalls zum Cinema del Presente gehört, dann doch zu gut und zu amüsant – auch wenn er ständig selbstbezüglich agieren muss: „Where are you Mount Everest? Give me an ever rest.“ Ich glaube, den Spruch kann man sich merken.

Und den Film darf man sich merken: „Not One Less“ von Zhang Yimou im Wettbewerb. Die dreizehnjährige Wei Minzhi – gespielt von der dreizehnjährigen Wei Minzhi – soll einen Monat lang den Lehrer in einem winzigen Dorf in der chinesischen Provinz vertreten, anderer Ersatz wurde für ihn, der zu seiner sterbenden Mutter muss, nicht gefunden. Ein schlechter Ersatz, denn das Bauernmädchen ist nur an den fünfzig Yuan interessiert, die ihr für den Job versprochen wurden, zehn mehr soll sie bekommen, wenn sie während der Zeit keinen der Schüler verliert. Und darum, und nicht um den Unterricht, kümmert sie sich auch. Stur, verbissen, verbohrt, wie sie ist. Als sie aber Zhang Huike, einen aufgeweckten Zehnjährigen, zu verlieren droht, weil er in der Stadt arbeiten muss, da lernt sie zusammen mit ihren Schülern rechnen. Wie viel kostet die Busfahrt, um ihn zurückzuholen? Wie viele Mao machen einen Yuan? Schließlich fährt sie los, und alles deutet auf die Katastrophe hin, aber im Triumph, mit Fernsehen, Geld für die Schule, bunten Kreiden und Zhang Huike kehrt sie zurück.

Es ist schon oft richtiges Bauerntheater, das Zhang Yimou mit seinem Laienensemble veranstaltet, und man kann sich vorstellen, dass sich ein chinesisches Publikum, das die Umstände ja besser als wir kennt, großartig amüsiert. Aber die Geschichte ist schön gefilmt, mit großem dramaturgischem Gespür inszeniert und die Ausführlichkeit vieler Szenen eben gut begründet. Und dann diese Wei Minzhi! Sie geht einem echt auf die Nerven, in ihrer beschränkten Art – und am Ende bricht sie einem doch das Herz.

Brigitte Werneburg

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