■ Lido-Kino: Rotlicht & Schatten
Ein oft und gern hier zu beobachtendes Phänomen ist, daß man nachmittags einen verhärmt aussehenden Kollegen trifft. Teilnahmsvoll fragt man: „Was hat man dir, du armes Kind, getan? Wie geht es dir?“ Worauf er sagt: „Ach, nicht so gut. Ich habe den ganzen Vormittag italienische Filme gesehen.“ Sofort weiß man, was gemeint ist. Die Synopsen für italienische Filme lesen sich etwa so: Italien steckt in einer tiefen Krise, die Menschen werden aggressiv und arrogant, und daß alle immer den Falschen lieben, macht es auch nicht besser. Sie heißen Francesco und Eleana, sind verbitterte Professoren, und dann wird auch noch das Auto aufgebrochen. Schuld ist meist das Fernsehen.
Sehr speciale wird es, wenn sich diese Konstellation mit dem paart, was Jon Jost unter interessantem, provokantem Kintopp versteht. Der Chicagoer very independent Jost ist Berlinale-Besuchern durch das Forum bekannt, das seine Arbeit seit Jahren intensiv verfolgt. Aufgefallen war er durch seine mit kristalliner Kälte konstruierten griechischen Tragödien auf dem platten Land im Mittleren Westen oder in der Upper East Side New Yorks. Jost läßt seine Protagonisten, Personen wie Requisiten, mit der ehernen Notwendigkeit von Planeten umeinander kreisen. Immer ist auch ein Reflektiönchen über das Bild an sich und seine Idolatrie dabei. Es wundert wenig, daß diese Sicht der Dinge zu Italien unter Berlusconi paßt, wo der Regisseur inzwischen auch lebt. „Una a me, una a te, uno a Raffaele“ beginnt mit der Ermordung Falcones, verrätselt sich dann aber zusehends und bleibt schließlich ganz Kunstgewerbe.
A propos Kunstgewerbe. Wenn sich Paris seinen Rotlicht- & Schattenmilieus zuwendet, geschieht es häufig, um zu beweisen, daß hier l'amour noch stärker und plus douce sein muß, wenn sie gegen all die Widrigkeiten überleben will. So war es bei „Wilde Nächte“, so war es auch bei „Die Liebenden vom Pont- Neuf“. Hier nun, in Karim Dridis' „Pigalle“ ist der Asphalt stets naß, die Reklamen leuchten (le désir blink-blink), und er hat keine Federboa, keinen Schminktopf, kein blitzendes Arabermesser gescheut, um seinem Little Italy, seinem Quartier, treu zu bleiben. Das ist zum Teil auch extrem gelungen, und der Mut, einen solchen Film in den Wettbewerb zu nehmen, muß sich auf jeden Fall auszahlen. Seine beiden Transen, allen voran Divine, sind keine Mrs. Doubtfires, die schon morgen wieder Robin Williams heißen werden. Geschlechterkarneval als Beruf und Berufung. Fifi, ein junger Gangster, schläft sowohl mit Divine als auch mit Véra aus der Peep-Show. „Pigalle“ ist ein wildes Märchen, das David Lynch gefallen hätte: eine Gruppe von Freaks, ein Zwerg, den sie „Empereur“ nennen, ein Fettkloß und ihre Gang sorgen mit Opiumfolterhöhlen dafür, daß die Liebenden Leichen statt Erfüllung in ihren Betten finden. Ohne sie hätte man das Ganze ja auch irgendwann einmal in die Depression abstürzen lassen müssen, die längst im Hintergrund lauert.
Ähnlich wie unser Jan Schütte hat James Grey versucht, in Brighton Beach ein „Little Odessa“ (ebenfalls im Wettbewerb), ein kleines Jiddischland zu finden. Dabei unterlaufen ihm leider ziemlich goyische Geschmacklosigkeiten. Zum Beispiel gibt ausgerechnet die PLO- Aktivistin Vanessa Redgrave die sterbende jiddische Mame. Und die zuhauf anfallenden Leichen getöteter Juden stopft der Killer Joshua in einen Ofen in irgendeinem Hinterhof; nachdenklich blickt die Kamera in die Flammen. Da war doch was ... Mariam Niroumand
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