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Archiv-Artikel

Leuchtende Handtaschen

Niemand kann so schön von der Sonne erzählen: Der bulgarische Autor Dimitré Dinev verhilft in seinem Erzählband „Ein Licht über dem Kopf“ jenen zur Sprache, die in den unübersichtlich gewordenen und immer noch getrennten Welten von Ost und West ihre Persönlichkeit zu verlieren drohen

VON STEFAN KISTER

Von Osten kommt das Licht. Und von Osten kommen Vehikel mit einer sonderbaren Fracht. Sie haben Särge geladen, in denen die Untoten längst zusammengebrochener Reiche liegen, Gestalten wie Lazarus, die jenseits der Grenze auf ein neues Leben hoffen. Oder alte Reifen. Eine Woche dauert die Reise zwischen diesen schwarzen Resten erloschener Welten, eine Woche der Finsternis und lastender Träume.

Dann kommt Wien. Und niemand kann später so schön von der Sonne erzählen wie der blinde Passagier einer solchen Überfahrt. So heißt es in einer der Erzählungen von „Ein Licht über dem Kopf“, dem neuen Buch des bulgarischen Schriftstellers Dimitré Dinev. Seit seinem gefeierten Romandebüt „Engelszungen“, das den belletristischen Ost-West-Verkehr zwischen einer geschichtenfunkelnden balkanischen Chaoswelt und dem gelobten westlichen Land eröffnet hat, wird Dinev hierzulande mit offenen Armen empfangen – erst kürzlich erhielt der 1968 in Plovdiv geborene und nach seiner Flucht 1990 in Wien sesshaft gewordene Autor den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis.

Anders ergeht es den Gestalten, von denen er erzählt. Etwa jenem Spas Christov, der sich mit einem Freund mittels der weißen, später auch schwarzen Magie der Arbeit ein Aufenthaltsrecht erwirken will. Alles versuchen die beiden, um einmal zu den Begnadeten zu gehören, die in Wien die Straße putzen: „Ihre orangefarbenen Gewänder leuchteten. Man sah sie von weitem, wie viele aufgehende Sonnen. Himmelskörper, die ihre fest gezeichneten irdischen Wege gingen. Unerreichbar waren sie. Sie waren von einem anderen Stern.“ Was für eine Perspektive! Vielleicht muss man sich selbst eine Zeit mit Jobs wie dem Vergolden von Engeln durchgeschlagen haben, um sie zu gewinnen, um einen gestirnten Himmel noch dort zu erkennen, wo längst alle Lichter erloschen scheinen.

Man begegnet in Dinevs Erzählungen Figuren, von denen sonst niemand etwas wissen will: Gaunern, Krisengewinnlern und Neuordnungsverlierern, auch normalen Leuten, die sich Visa erschleichen und Reisepässe fälschen. Sie strotzen vor Zuversicht in aussichtsloser Situation. Und wirken sie vorübergehend etwas aschfahl, dann vielleicht, weil sie etwas zu viel Blut gegen Bares gespendet oder mit einer Niere die offene Rechnung ihres Schleusers beglichen haben. In der Titelgeschichte trägt der Held seinen innersten Wunsch als Tattoo an intimster Stelle: das Wort „Taxi“, das ihm in virilem Glück aufsteigt bis zum Schild über dem eigenen Auto. Am Ende lassen zwei Polizisten mit dem dreibändigen Telefonbuch Wiens dieses „Licht über dem Kopf“ wieder verlöschen, um den wahren Namen des Taxi-Migranten zu erfahren. Eine bezeichnende Szene.

Denn tatsächlich speist sich die Kraft von Dinevs Erzählens aus der Konfrontation von ans Mythische grenzenden Formen der Verwandlung mit der Ordnungsmacht der zeitgenössischen Realität. Jede dieser Gestalten hat ihre Identität mehrfach gewechselt. Sei es jener Freund profitabler Wechselbäder, der nach dem Hin und Her des Lebens glaubt, seine Seele verloren zu haben; sei es der Glücksritter, der vor seinen Geschäftspartnern in eine Geschlechtsumwandlung flieht; sei es der unbekannte Dichter, dem ein eifersüchtiger Inspektor die Haut abziehen lässt, um daraus eine Handtasche für seine ihn verschmähende Geliebte zu fertigen.

In einer der schönsten Erzählungen wandert diese Tasche durch die Zeit und gelangt schließlich in die Hände einer durch Schmerz stumm gewordenen jungen Frau. Angesichts des aus einem Martyrium gefertigten Behältnisses findet sie die Sprache wieder: „Worte eines unbekannten, verstorbenen Dichters. Sie gehörten den Lebenden, wie alle Worte Verstorbener.“ So wie die Tasche die Botschaft eines Toten weiterträgt, so verhilft der Dichter Dimitré Denev jenen zur Sprache, die in der schwarzen Nacht, die eine Welt von der anderen trennt, den Osten vom Westen, ihre Persönlichkeit auf immer zu verlieren drohen. Und wahr ist: Niemand kann so schön von der Sonne erzählen.

Dimitré Dinev: „Ein Licht über dem Kopf“. Erzählungen. Deuticke Verlag, 192 Seiten, 17,90 €