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Leuchten Ein Begleiter, lang über den Sommer hinaus: „Sonnenflecken, Schattenflecken“ von Philippe JaccottetAufblitzende Möglichkeiten einer poetischen Existenz

Es ist eine nervöse Ruhe aufgehoben in diesem Buch, ein waches Gefühl für die vergehende Zeit, die nie drängt, eine Folge verlangt, obwohl sie chronologisch die Ordnung der kurzen Texte aus sechs Jahrzehnten bestimmt. Die Zeit erscheint aber auch nie gedrängt auf knappem Raum, dabei vereint der schmale Band eine Fülle verstreuter Eindrücke, Gedanken, Erfahrungen eines langen Lebens. Das Leben eines Dichters des Lichts, den freilich der flirrende Glanz der literarischen Metropole Paris so sehr blendete, dass er erst im tiefen Leuchten des Südens die Räume für seine verhaltene Sprachkunst fand.

Was klingen mag wie eine Künstlerbiografie des 19. Jahrhunderts, zeichnet knapp das Leben des 1925 im Schweizer Waadtland geborenen Philippe Jaccottet nach, der zu den großen Poeten der französischen Nachkriegsmoderne gezählt wird. Die anachronistische Anmutung ist keine modische Pose bei diesem Dichter, der sein Zeitgefühl im Schreiben zu entfalten versucht, und ein Provinzdichter ist Jaccottet, der nach einem Intermezzo in Paris seit 1952 im provenzalischen Grignan lebt, gewiss nicht.

Sein Schreiben verlangt nach Distanz, auch zur Metropole, und es sucht die Weite, wie ihn die „Landschaft mit Weizenfeldern“ von Gérard de Palé­zieux auf dem Cover dieses Spätwerks mit sattem Korngelb und hohem Himmelsblau vorstellt. Aber die motivische Erinnerung an van Goghs Krähenbild verweist diskret auf den Tod, der hinter der sommerlichen Zirpenstille lauert, die das Buch mit feinem Strich evoziert, als sei sie unvergänglich.

Mehr noch als in den spröden Landschaftsminiaturen, die an Francis Ponge und Peter Handke erinnern, findet die mediterrane Weite sich vielleicht in der Komposition des Buches wieder, die kurzen Texte werden getragen von einem langen, gleichsam epischen Atem, und die Alltagsnotizen über das Leben und das Schreiben, die Gedichtentwürfe und Prosafragmente, Reflexionen über Literatur, Malerei und Musik lassen sich auch lesen als luftig gefügter Lebensroman, der auf einen Schlusspunkt verzichtet. Jaccottet hat „Sonnenflecken, Schattenflecken“ im 89. Lebensjahr abgeschlossen, doch Gesten des Abschieds oder des Goethe’schen „taedium vitae“ werden aufgehoben in der gegenläufigen Bewegung dieses offenen Buchs, einer Art „Retroperspektive“ (Catherine David), die den rückwärtigen Blick bricht in einer schwebende Gleichgegenwärtigkeit der frühen und späten Texte.

Für dieses Kunststück hat Jac­cot­tet sich nach dem Vorbild Franz Kafkas und Max Brods eine Doppelrolle als Autor und Herausgeber auf den Leib geschrieben und aus den von ihm zur Vernichtung bestimmten dreißig Notizheften, die sich seit 1952 angesammelt hatten, eine Auswahl exzerpiert, in einer zweite Lese, denn die Materialsammlungen hatte Jaccottet bereits für frühere Prosabände abgeerntet.

Eine Restesammlung könnte man dieses wunderbare Buch, das zu einem Begleiter werden kann, lang über einen Sommer hinaus, also auch nennen, womöglich im Sinne Jaccottets, der jedem sprachlichen Glanz so sehr misstraut, dass er metaphorisches Blendwerk und der Brillanz verdächtige Pointen meidet. Geschliffen bis zur Brüchigkeit ist diese Sprache, aber nie poliert.

Von Sonnen- und Schattenflecken zu schreiben, ohne Licht-und-Schatten-Sinnbilder zu schaffen, Jaccottets großer Sehnsucht, mag ähnlich aussichtslos sein wie die berühmte Bemühung des Clowns Emmett Kelly, einen Lichtpunkt auf ein Kehrblech zu fegen. Aber in diesem Buch, das weniger Summe des Lebens als Summe seiner Optionen und weniger autobiografisches Zeugnis ist als retrospektiver Entwurf einer poetischen Existenz, blitzt die Möglichkeit immer wieder auf. Hans-Jost Weyandt

Philippe Jaccottet:„Sonnenflecken, Schattenflecken“. A.d. Französischen von W. Matz u. E. Edl. Hanser, München 2015, 272 Seiten, 22,90 Euro

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