Lettland in der Krise: Keiner will der Buhmann sein
Nach dem Regierungsrücktritt müssen die verantwortlichen Politiker jetzt nach einem Ausweg aus der Krise suchen. Im Gespräch sind eine nationale Sammlungsregierung auf Zeit.
STOCKHOLM taz Lettland sucht den Superpolitiker. Der neue Ministerpräsident müsse wirtschaftlich und finanziell kompetent sein, über den Parteien stehen und im Volk hohes Vertrauen genießen. Zudem müsse es ihm gelingen, Gräben zu überwinden, die LettInnen wieder zu einen und gleichzeitig auf internationaler Ebene sowie bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) überzeugend aufzutreten. In dieser Aufzählung der gewünschten Qualifikationen, die Solvita Aboltina, Vorstandsmitglied der bisherigen Oppositionspartei Neue Ära vorlegte, fehlte nur ein wesentlicher Punkt: zumindest ein Name eines solchen Kandidaten.
Der Rücktritt der Regierung unter Ivars Godmanis am vergangenen Freitag war überfällig. Lettland steckt von allen Staaten in der Europäischen Union am tiefsten in einer finanziellen und wirtschaftlichen Krise und hatte gleichzeitig eine Regierung, die nicht nur völlig überfordert, sondern auch handlungsunfähig war. Die Tageszeitung Diena schrieb Anfang Februar in einem Kommentar, dass nicht nur das Land konkursreif, sondern auch die politische Elite moralisch bankrott sei.
Einen letzten konkreten Vorschlag, wie man einer schon in eine Depression übergegangenen Rezession begegnen solle - die Wirtschaftsleistung weist ein Minus von 12 Prozent aus - hatte Regierungschef Ivars Godmanis in seiner Ansprache zum neuen Jahr gemacht: Die LettInnen sollten ähnlich wie Pinguine zusammenrücken und sich aneinander wärmen.
Seither blockierten sich die vier Parteien seiner Regierungskoalition gegenseitig. Keine wollte der Buhmann sein und von den WählerInnen für die unpopulären Maßnahmen bestraft werden, die der Internationale Währungsfonds zur Sanierung der bankrotten Staatsfinanzen fordert.
An diesem Dilemma hat auch der Rücktritt der Regierung Godmanis erst einmal nichts geändert. Zwar erklärte sich die Neue Ära schnell bereit, von der Opposition in die Regierung zu wechseln - aber möglichst nur im Rahmen einer Koalition aller oder so gut wie aller Parteien. Gemeinsam solle eine solche "nationale Sammlungsregierung" die jetzt notwendigen politischen Entscheidungen treffen und sich dann in vorgezogenen Neuwahlen den WählerInnen stellen.
Staatspräsident Valdis Zatlers wird sich am heutigen Montag mit den Parteivorsitzenden treffen und über mögliche Lösungen beraten. Er hat jedoch bereits vorab seine Skepsis geäußert: Die Parteien hätten in der Vergangenheit bewiesen, "dass sie ihre eigenen Interessen über die Interessen der Republik Lettland stellen".
Meint er dies ernst, müsste er eigentlich umgehend das Parlament auflösen - diese verfassungsrechtliche Möglichkeit hat er - und Neuwahlen ausschreiben. Diese könnten dann spätestens zusammen mit den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni stattfinden.
Für den Posten des Chef einer bis Juni amtierenden "Notregierung" hat Zatlers angeblich schon Kontakt mit einem Kandidaten aufgenommen, der nicht von vornherein nein gesagt haben soll: den jetzige EU-Energiekommissar Andris Piebalgs. Doch es gibt auch Stimmen, die eindringlich vor Neuwahlen warnen. Denn das Vertrauen der LettInnen zu ihren PolitikerInnen ist am geringsten in der gesamten EU. Fänden zum jetzigen Zeitpunkt Wahlen statt, würden die Parteien mit den populistischsten Rezepten gewinnen. Und gerade die kann Lettland jetzt nicht gebrauchen.
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