: Lettische KP gegen Führungsanspruch
■ ZK der Partei denkt über Verfassungsänderung nach
Moskau (ap/taz) - Erstmals in der Geschichte der Sowjetunion hat sich ein Gremium der Kommunistischen Partei, das Zentralkomitee der KP Lettlands, am Mittwoch abend dafür ausgesprochen, den Verfassungsartikel zu streichen, der die Partei als die führende Kraft der Gesellschaft und des politischen Systems bezeichnet. Der Artikel ist praktisch identisch mit der entsprechenden Bestimmung in der Unionsverfassung. Die Beseitigung dieses Artikels wäre allerdings nicht gleichbedeutend mit der Zulassung der neu entstandenen Parteien. Jannis Vagris, erster Sekretär der lettischen KP, sagte auf eine entsprechende Frage des sowjetischen Fernsehens vorsichtig: „Angesichts der realen Situation in der Republik und der weiteren Demokratisierung ist eine solche Möglichkeit nicht auszuschließen. Es könnten alle möglichen Parteien ins Leben treten, aber es ist verfrüht, davon zu sprechen.“ Vagris versicherte, er sei bereit zum Dialog „mit jedermann und zur Zusammenarbeit mit solchen Gruppen, die für die Erneuerung des Sozialismus eintreten“.
In den letzten Jahren sind in Lettland Tausende informeller Gruppierungen entstanden, die im politischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Bereich arbeiten. Es existieren aber auch Parteiansätze, die für die vollständige Unabhängigkeit Lettlands eintreten, wie die Bewegung für die nationale Unabhängigkeit oder die Partei der lettischen Wiedergeburt. Eine Legalisierung dieser Gruppierungen würde die lettische KP einer schwer erträglichen Zerreißprobe zwischen den auf nationale Selbstbestimmung drängenden Kräften und der Zentrale des Imperiums aussetzen. Nach der äußerst barschen Kritik des sowjetischen ZK an der Laxheit der baltischen KPs im Kampf gegen Separatismus und Nationalismus hat die lettische KP die Forderung nach organisatorischer Unabhängigkeit und einem eigenen Statut zurückgewiesen. Zahlreiche Abgeordnete protestierten aber gegen Stil und Inhalt der Attacke. Das ZK hat den Frontalangriff allerdings für seine eigenen Bedürfnisse umgeformt. Es sieht den Moskauer ZK-Beschluß als Aufforderung, „schleunigst Pläne zur politischen und ökonomischen Reform auszuarbeiten, das gesellschaftliche Leben zu demokratisieren“.
In Litauen hat unterdessen das Parlament die ursprünglich für 5. September geplante Beratung eines Gesetzes zur Einführung einer „litauischen Staatsbürgerschaft“ auf unbestimmte Zeit verschoben. In Vilnius kursierten seit Montag Gerüchte über mögliche Streiks aus Protest gegen die Einführung eines solchen Gesetzes, das ein erster Schritt zur Veränderung des Wahlrechts sein könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen