■ Lesen bildet: Das Bundeskriminalamt läßt sich von einem Kriminalroman inspirieren: Dem Mörder aus der Weitlingstraße auf der Spur
Berlin (taz) – Am 30. 11. 93 vormittags klingelt beim Verlag Rasch & Röhring das Telephon. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden möchte wissen, wer sich hinter dem Pseudonym „Artur Cravan“ verbirgt, von dem bislang zwei Kriminalromane erschienen sind. Der Verlag weigert sich, das Pseudonym zu lüften, und bittet um eine schriftliche Bestätigung der Anfrage. Die wird dem Verlag schließlich postwendend zugefaxt.
„Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des versuchten Mordes – hier: Pseudonym ,Artur CRAVAN‘“, heißt es da.
Beunruhigt über den „versuchten Mord“, verständigt der Verlag den Autor, der sich seinerseits schon in den Fängen des BKA wähnt und darüber nachgrübelt, welchen „versuchten Mord“ das BKA wohl gemeint haben könnte. Den versuchten Mord an Artur Cravan oder begangen von Artur Cravan? Oder sind es die Morde, die Artur Cravan begehen läßt? Aber diese Morde sind in der Regel vollendet und nicht bloß versucht. Am Ende ist die Neugier stärker als das Bedürfnis, in das nächste Flugzeug in Richtung Karibik zu steigen. Der Autor ruft das BKA an und erfährt folgendes:
Ein Beamter war in der französischen Ausgabe von „Tod in der Schonzeit“ auf die Weitlingstraße gestoßen, wo kurz nach dem Mauerfall die Neonazis die Praxis ihrer linksradikalen Gegner kopiert und ein Haus besetzt hatten. Daraufhin besorgt sich der Beamte die deutsche Ausgabe, auf daß ihm auch nichts entgehe, was da über die „Hafenstraße der Rechten“, wie es damals in der Presse hieß, geschrieben steht.
Wissen wolle er nun, so der freundliche Herr in Wiesbaden, ob den beschriebenen Ereignissen im Buch tatsächliche Recherchen zugrunde liegen, denn in dem Fall erhoffe er sich vom Autor Aufschluß über den Hintergrund der Szene. Auch über die wahre Identität der im Roman vorkommenden Personen würde er gerne aufgeklärt werden. Leider muß ich ihn enttäuschen, sowohl Handlung als auch Personen sind frei erfunden. Wir plaudern noch ein wenig über den Realitätsgehalt des Plots, dann verabschiedet sich der Beamte mit den Worten: „Wenn ich noch Fragen habe, rufe ich Sie wieder an.“ Glaubt er mir etwa nicht? Hat er mich durchschaut?
Und tatsächlich. Nach längerem intensivem Grübeln bin ich geneigt zuzugeben, daß es sich keineswegs um fiktive, sondern um reale Personen handelt, die mir während meiner häufigen Besuche in der Weitlingstraße über den Weg gelaufen sind. Oder, wie man auch auf dem Buchrücken nachlesen kann: „Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind alles andere als rein zufällig und ganz und gar beabsichtigt.“ Jetzt warte ich darauf, daß sich das Bundeskriminalamt wieder bei mir meldet. Diesmal wegen Falschaussage im „Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des versuchten Mordes – hier: Pseudonym ,Artur Cravan‘“.
Aber bitte: Wann hat ein Krimiautor denn je ein größeres Lob aus berufenem Munde vernommen? Hautnah beschriebene Recherchen, die sogar das BKA ein Geheimnis wittern lassen, die Spur eines vermeintlichen Mörders. Erfreulich ist natürlich auch, daß im BKA Krimis gelesen werden, noch dazu auf französisch.
Ein bislang verborgen gebliebener sympathischer Zug an einem zwar einzelnen, aber nichtsdestotrotz einem Beamten einer nicht gerade beliebten und von Skandalen und Fahndungspannen heimgesuchten Institution.
Andererseits stimmt es jedoch auch wieder irgendwie bedenklich, daß sich das BKA Ermittlungsfortschritte aus Kriminalromanen erhofft. Angenommen, ich hätte nicht darauf verwiesen, daß alles erfunden und erlogen ist? Ein zweites Ermittlungsdesaster wie in Solingen wäre dann nicht mehr auszuschließen gewesen, vielleicht sogar vorprogrammiert: Nicht auszudenken: Kann ich das als Kriminalbuchautor verantworten? Unschuldige Leute hinter Gitter zu bringen, nur weil sie in einem Roman aufgetaucht sind? Niemals: Ich werde eisern bei meiner Aussage bleiben.
Wie heißt es doch so schön: „Die Kriminalpolizei verfolgt alle Spuren.“ Bis heute dachte ich, es würde sich dabei um den offiziellen Sprachgebrauch zur Beruhigung der Öffentlichkeit handeln, wie zum Beispiel in Bad Kleinen, als die Kriminalbeamten erst mal auf den Spuren herumtrampelten, bevor sie sie sicherstellten. Aber heute wurde ich eines Besseren belehrt, denn welcher Kripobeamte ist schon mal auf die Idee gekommen, in einem Krimi nach Spuren eines wirklichen Mörders zu fahnden? Für unsere Polizei gibt es also noch Anlaß zur Hoffnung.
Weiß eigentlich jemand, ob die Brüder Grimm noch leben? Könnte doch schließlich sein, daß sie wegen der Mordsache „Rotkäppchen“ vorgeladen werden. Artur Cravan
(nach Diktat verreist)
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