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Archiv-Artikel

Leidenschaftliche Pfeifen

Vom Wesen des Schiedsrichters und seiner Schrilltöne. Ein Wahrheit-Essay

Der Schiedsrichter liebt seine Pfeife. Oft inniger als seine Frau. Die Pfeife ist ihm stets ein guter Kamerad

Der Mensch pfeift seit Jahrtausenden. Er pfeift zu Lande und zu Wasser, zum Vergnügen und aus Protest. Er pfeift im Dunkeln, er pfeift auf der Jagd und er pfeift im Krieg. Mancherorts pfeift der Mensch sogar, anstatt zu reden. In Nordafrika und auf Gomera pfeift er Nachrichten durchs Gebirge, in Äquatorialguinea kunstpfeift er um die Gunst der Braut. Man kann auch für Geld pfeifen wie der Schupo, der Schaffner oder Ilse Werner. Aber niemand pfeift so leidenschaftlich wie ein Schiedsrichter.

Der Schiedsrichter liebt seine Pfeife. Oft inniger als die eigene Frau. „Rot für Ehe“, aber „mit der Pfeife per du“, resümierte Dieter Pauly, 20 Jahre im Dienst des DFB. Die Pfeife war ihm nie nur Werkzeug, die Pfeife war ihm stets ein guter Kamerad. „Meine Pfeife hat mich nie ihm Stich gelassen“, sagt Pauly. Ja, pfeifenlos ist uns der Unparteiische gar nicht mehr vorstellbar.

Es hätte aber auch ganz anders kommen können, wie ein Blick in die Hamburger Fußballchronik zeigt. 1894 tritt der FC Borgfeld gegen die Eilbeck Assocations an. Als die Mannschaften Aufstellung nehmen, läuft der Referee ein; ohne Pfeife, aber begleitet von einem Trompeter, der die Kommandos weitergibt. Von Protesten gegen diese Art der Spielleitung ist nichts bekannt. Es hätte auch nichts genützt.

Im Regelwerk des Fußballs sucht man die Pfeife vergebens. Sie kommt gar nicht vor. Weder international noch national. Selbst in den Ausführungsbestimmungen des DFB ist von ihr nur mittelbar die Rede. Als Signal „können Pfiff, Handzeichen, Zuruf und bloße Zustimmung zur Ausführung von Abstoß, Eckstoß, Freistoß und Einwurf angesehen werden“.

Die Vorstellung, in Fußballgründerzeiten hätte sich statt der Trillerpfeife die Trompete durchgesetzt, wahlweise die Tuba, das Fagott, das Baritonsaxofon oder Harpo Marxens Hupe, ist verlockend. Erschiene uns der Unparteiische nicht wesentlich heiterer, wirkte weniger verbissen, erbsenzählerisch, stur und beamtenhaft? Dagegen spräche allerdings eine gewisse Unhandlichkeit des Instrumentariums, welche die auch so schon oft genug ins Hochlabile lappende Referee-Psyche endgültig destabilisieren könnte. Und wer sagt denn, dass die Schiedsrichterpfeife nicht ebenso feinnervig bedient werden kann, ja muss, wie ein Saxofon, dass im Refeerewesen nicht genauso viel Herzensbildung und sublime Musikalität schlummern wie in Lester Youngs Chorussen über „Honeysuckle Rose“?

„Schiedsrichter entwickeln eine individuelle Art, durch ihre Pfeiftöne anzuzeigen, was sie wollen“, sagt Dieter Pauly. Kollege Markus Merk zum Beispiel hat drei Pfeifen. „Eine grüne, eine gelbe und eine schwarze.“ Und jede „spricht eine eigene Sprache, transportiert eine Botschaft. Es ist, als spielte ich ein Instrument und lese vom Notenblatt.“ Vielleicht sollte das Jazzfachblatt Down Beat bei der Wahl der „besten Instrumentalisten des Jahres“ mal die Kategorie „Fußballpfeife“ einführen. Die Kongruenzen sind tatsächlich verblüffend. So wie Ornette Coleman, der Entdecker der Harmolodik, nur auf einem Plastiksaxofon richtig spielen kann, bevorzugt Weltschiedsrichter Markus Merk jahrelang eine Billigpfeife („die deutsche, Schrillton, Kunststoff, schwarz“). Der Umstieg auf ein bundesligataugliches Spitzenfabrikat war für ihn „eine große Umstellung“. Doch Merk hat es gepackt. Heuer gilt er als gediegener Hardbopper, dem selbst gröbste Fouls keine spieltechnischen Probleme machen: „Allein mit der Lautstärke zeige ich an: schlimm oder nicht so schlimm.“

Kollege Seiler dagegen liebt es knackig und funky: „Ein kurzer kräftiger Pfiff bei kleinen Vergehen und ein kräftiger längerer Pfiff bei gröberen Verstößen, dann wissen die Spieler schon am Klang, was los ist.“ Dieter Pauly, eher ein Mann der filigranen Coleman-Hawkins-Schule, unterscheidet „den einfachen, doppelten und dreifachen Pfiff oder den Dauerpfiff gegen besonders widerspenstige Spieler“. Seine Spezialität waren virtuose Fermaten, mit denen er den Bau der Freistoßmauern orchestrierte: „Wenn ich das Mauerspielchen mit den Spielern spielte, dann hielt ich mich oft dran zu pfeifen; so lange, bis die Mauer stand.“

Solch technische Kabinettstückchen erfordern natürlich eine penible Vorbereitung. Pauly vertraute auf dasselbe Ritual, das der große Tenorsaxofonist John Coltrane seinem Otto-Link-Mundstück Nr. 5 angedeihen ließ. Er reinigte seine Pfeife „erst unmittelbar vor Spielbeginn mit Wasser. Auf diese Weise kam auch die Korkkugel mit Wasser in Berührung, wodurch sie noch schöner trillerte.“ Andererseits sollte man die Parallelen zwischen Jazzer und Rasenpfeifer nicht zu weit treiben. Vor allem, was die erotisierende Wirkung ihrer Darbietungen betrifft, gerät der Schiedsrichter schnell ins Hintertreffen. Sehr zum Bedauern von Alt-Referee Wolf-Dieter Ahlenfelder: „Das Gerede von den Mädchen, die uns fürs Spiel und auch sonst in Stimmung bringen sollen – ein Witz. Einmal hab ich die Tür zu meinem Hotelzimmer einen Spalt offen gelassen. Aber bis zum nächsten Morgen war nur mein Hals steif.“

MICHAEL QUASTHOFF