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Leidenschaft macht krank

■ Ein amerikanisches Buch über Liebessucht wird zum Auslöser für eine neue Frauenbewegung

Seit einem halben Jahr erobert ein Buch die Bestsellerlisten des deutschen Buchhandels, das vorher bereits in den USA für Furore gesorgt hat: „Wenn Frauen zu sehr lieben - die heimliche Sucht, gebraucht zu werden“, von der amerikanischen Therapeutin Robin Norwood. Beziehungsprobleme, die früher als Ergebnis patriarchalischer Strukturen analysiert wurden, bekommen von Norwood ein neues Etikett. Die Diagnose heißt „Liebessucht“ und schon ist das Verhängnis therapierbar. In etlichen Selbsthilfegruppn versuchen Frauen nun, ihre „Sucht“ zu bekämpfen.

Seit Anfang Februar steht bei der Kontaktstelle für nationale Selbsthilfegruppen in Berlin das Telefon nicht mehr still. Täglich melden sich Frauen, die sich nach Lektüre des Buches als liebessüchtig diagnostizieren und nun entsprechend den Vorschlägen der Autorin eine Selbsthilfegruppe suchen, um ihr „Suchtproblem“ zu lösen. Inzwischen sind etwa 50 solcher Gruppen entstanden, hauptsächlich in den Großstädten. Dort treffen sich Frauen zwischen 20 und 40 mit mehrheitlich akademischer Ausbildung. Ansonsten sind die Gruppen heterogen zusammengesetzt. Manche Frauen sind Singles siehe Manuskript, d. Häzzerin, andere verheiratet, oder sie leben mit ihrer Liebesbeziehung zusammen, einige haben ein oder zwei Kinder, ein Teil ist heterosexuell, andere sind lesbisch. Auf den ersten Blick scheinen sie völlig normal, attraktiv, selbstbewußt, erfolgreich. Trotzdem finden sie sich in Selbsthilfegruppen zusammen. „Nach der Lektüre des Buches wollte ich nicht mehr länger die Augen davor verschließen, daß ich süchtig bin. Mir ist klar geworden, daß ich krank bin und dringend eine Therapie brauche“, ist die Begründung einer Enddreißigerin für ihre Teilnahme an einem therapeutischen Beratungsgespräch. Die Anzeichen für die Sucht sind ihr schon länger bekannt. Immer wiederkehrende Beziehungsauseinandersetzungen. Mit immer wiederkehrendem, gleichsam ritualisiertem Ablauf. Der jedesmal nach kürzerer oder längerer Zeit zu demselben Ergebnis führt: Ein dauerhafter Leidenszustand tritt ein bis hin zu selbstzerstörerischen Verhaltensweisen. Vom Patriarchat zur Sucht Seit vielen Jahren wurde und wird dieses Phänomen aus den verschiedensten politischen, Frauen auf die Rolle des Weibchens festzulegen, abhängig zu halten und an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu hindern. Oder polit–ökonomisch: die Frau als Reproduzentin der Arbeitskraft des Mannes und Produzentin von neuen Arbeitern wird zur Stabilisierung und Erhaltung des Kapitalismus in ein geschlechtsspezifisches Rollenverhalten gezwängt. „Nun lese ich das Buch und merke plötzlich, daß alle bisherigen Versuche, aus meiner Schublade auszubrechen, notwendigerweise erfolglos bleiben mußten, weil sie an der völlig falschen Stelle angesetzt haben“, bekennt eine Frau, die seit Anfang Februar an einer Gruppe der feministischen Beratungs– und Therapieeinrichtung BeTS–PSIFF teilnimmt. Regeln zum Ausstieg Entsprechend der Theorie von Robin Norwood kann eine „Liebessüchtige“ wie bei anderen Abhängigkeiten auch (Alkohol, Tabletten etc.) nur geheilt werden, wenn sie ihr Verhalten vorab als Sucht erkennt, sich als süchtig akzeptiert und sich freiwillig in eine Therapie begibt, in der notwendigerweise ihre ganze bisherige Weltvorstellung in Frage gestellt, dann neu definiert und bewertet wird. Das bedeutet, das alte Leben, die alten Beziehungen, Freundschaften loszulassen, eine Phase der Verunsicherung und des Gefühls der Isolierung zu durchleben, um dann geheilt ein neues Le ben auf einer veränderten Basis und unter unbedingter Einhaltung bestimmter Regeln führen zu können. Dies ist der Punkt, an dem sich die Frauen in Bewegung setzen und damit eine neue Bewegung auslösen: „Die Frauen fühlen sich auf den Nerv getroffen und wollen endlich etwas verändern. Das Buch gab den letzten Impuls dazu“, ist der Eindruck einer Mitarbeiterin der Selbsthilfe Kontakt– und Informationsstelle Berlin vom ersten Gruppengründungstreffen, zu dem mehr als 30 Frauen kamen. Denn Robin Norwood beschreibt nicht nur die Krankheit und gibt Ratschläge zu ihrer Überwindung. Aus der Erfahrung ihrer Praxis als Familientherapeutin beschreibt sie gesunde Beziehungen von geheilten Frauen - als Beleg für erfolgreiche Therapien. Suche nach dem netten Mann Eine Therapeutin der feministischen Beratungs– und Therapiegruppe BeTS–PSIFF aus Berlin meint dazu aus ihrer Erfahrung mit dem Buch und ihren Klientinnen: „R. Norwood... empfiehlt.... dann einen fröhlichen, netten und harmlosen Mann zu suchen und zu finden. Dabei unterschlägt sie in ihren Fallbeispielen und den geschilderten Therapieverläufen die Mühe, die es kostet, neue Verhaltensweisen zu erproben, Frustrationen hinzunehmen, den Alltag positiv zu gestalten, Auseinandersetzungen in Beziehungen zu führen, sich alleine wohlfühlen zu können.“ Die Gleichstellung des Problems mit Alkoholabhängigen erweckt den Eindruck, daß die Betroffenen einer Minderheit in der Gesellschaft angehören. Die Chance, nach der Heilung auf mehrheitlich gesunde Mitmenschen zu treffen, sei also, analog zu einer genesenen Trinkerin, relativ groß. Ist sie das wirklich? In der letzten Zeit werden viele verschiedene Süchte der Öffentlichkeit nahegebracht. Dazu gibt es neue Analysen, Bücher, Therapien und Selbsthilfegruppen. Die Vermutung liegt nahe, daß die Autorin dadurch angeregt wurde, ein altes Problem mit einem neuen Etikett zu versehen. Daß daraus ein Bestseller wurde, liegt möglicherweise daran, daß es dem alten, bekannten Vorurteil entspricht: Seit Evas Sündenfall sind Frauen an ihrem Leiden selbst schuld. Claudia Lenk

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