Lehrer warnen vor Reformstopp: Sachsen seufzen über Pisa-Erfolg
Die Lehrergewerkschaft und die Grünen sehen das gute Abschneiden der Schüler mit gemischten Gefühlen. Dringend notwendige Veränderungen sind jetzt schwerer durchzusetzen.
Die guten Noten sächsischer Schüler beim bundesweiten Pisa-Vergleich sehen sächsische Lehrer mit gemischten Gefühlen: "Es ist wie bei einem Trainer: Man freut sich über die Erfolge des Schützlings, auch wenn das Stadion schöner sein könnte, die Gruppen kleiner und nicht alle am Training teilnehmen dürfen", meint die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sachsen, Uschi Kruse.
Trotz zurückgehender Schülerzahlen gebe es nach wie vor 20.000 Schüler, die an Förderschulen lernten und damit keinen allgemeinbildenden Schulabschluss anstreben. Den steigenden Anteil der Förderschüler sieht die schulpolitische Sprecherin der Grünen im Sächsischen Landtag, Astrid Günther-Schmidt, sogar als eine der Voraussetzungen des Pisa-Erfolgs: "Wer nicht in die Norm passt, wird aussortiert." Im Schatten glänzender Pisa-Erfolge herrschte an den Schulen Frust. Der Anteil sächsischer Förderschüler liegt mit 6 Prozent über dem Bundesdurchschnitt von 4 Prozent.
Beim diese Woche vorgestellten Bundesländervergleich des "Programme for International Student Assessment" (Pisa) schnitten sächsische Schüler in allen drei Disziplinen - Lesen, Mathe und Naturwissenschaften - erstmals am besten ab. Im aktuellen Pisa-Schwerpunkt Naturwissenschaften konnten die Sachsen sogar international an die Spitze vorstoßen und liegen auf dem zweiten Platz hinter Finnland. Alle fünf ostdeutschen Bundesländer schnitten in Naturwissenschaften überdurchschnittlich gut ab.
Sachsens Kultusminister Roland Wöllner (CDU) führte die Erfolge Sachsens auf zwei Hauptursachen zurück: Er lobte die engagierte Lehrerschaft, außerdem sah er das zweigliedrige Schulsystem in Sachsen bestätigt.
Dessen Herzstück ist die Mittelschule, wo Haupt- und Realschüler unter einem Dach lernen. Sie beherbergt zurzeit 60 Prozent der sächsischen Schüler. Die Entscheidung, ob das Kind aufs Gymnasium oder an die Mittelschule wechselt, fällt nach der vierten Klasse. Mittelschüler werden zwei Jahre später in Haupt- und Realschulgänge sortiert. Die sächsischen Oppositionsparteien und die GEW ärgert die frühe Auslese. Sie haben deshalb eine Initiative für längeres gemeinsames Lernen gegründet. Die Grünen wollen die "Schule für alle" im nächsten Jahr zum Wahlkampfthema machen.
Die Erfolge der Pisa-Studie könnten aber als Argument dagegen verwendet werden, meint GEW-Vize Kruse. Dabei entsprängen die sächsischen Pisa-Erfolge weniger dem zweigliedrigen Schulsystem als einer guten Unterrichtstradition.
80 Prozent der sächsischen Lehrer sind noch in der DDR ausgebildet worden. Die Ausbildung erfolgte nach einheitlichen Standards an Pädagogischen Hochschulen. Ab dem dritten Studienjahr absolvierten die angehenden LehrerInnen einmal wöchentlich schulpraktische Übungen. "Dann hieß es: morgen früh um acht Treffpunkt vor der Schule, zum Hospitieren oder Unterrichten", berichtet Hans-Joachim Wilke. Wilke lehrte Didaktik der Physik zunächst an der Pädagogischen Hochschule Dresden, später an der Technischen Universität. "In der fachdidaktischen Ausbildung legten wir großen Wert auf die Selbsttätigkeit der Schüler, getreu dem Grundsatz: Es bleibt nur hängen, was man selbst ausprobiert hat", erläutert er. Bis zu einem Drittel der Unterrichtszeit sollten die Schüler experimentieren. Die praxisnahe Lehrerausbildung habe man in Sachsen beibehalten, sagt Gesche Pospiech, heute Wilkes Nachfolgerin. Auch auf Experimente legten Lehrer weiterhin großen Wert.
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