Lebenswelten: Parallelwelten im Reuterkiez
In neuen Trend-Kiez Kreuzkölln braut sich was zusammen. Modeschauen, Ausstellungen - ein Event jagt das nächste. Noch lebt man gut zusammen. Aber es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das "neue" das "alte" Neukölln verdrängt
"Hamm Se keene Traute?" Einladend rudert Bernd Wirths mit den Armen in Richtung Eingangstür der Galerie St. St. Im Hintergrund blinkt es anrüchig rot. Nein, Traute haben die Rucksacktouristen nicht. Sie bleiben auf der Sanderstraße stehen. Die Männer und Frauen sind Teilnehmer der "nachtundnebel" Galerien-Schau, die immer im Herbst in Neukölln stattfindet. Der erotische Kabarett-Salon St. St. ist ihnen jedoch zu skurril. Der 74-jährige Rentner Bernd Wirths verschwindet als Einziger im Plüschambiente und bekommt dort von der Travestiekünstlerin Beverly Häppchen gereicht.
Wirths geht in alle Läden, in denen junge Leute "die neue Masche aufziehen", wie er sagt. Auch zu den Schwulen und zu den Ausländern. Er kennt sie alle, und alle kennen ihn.
Wirths ist ein Neuköllner Urgestein. Er hat die Zeiten miterlebt, als die Straßenbahnen anno dazumal durch "seinen Kiez" ratterten. Schon vor dem Krieg flanierte er abends zwischen Kottbusser Damm, Sonnenallee und Maybachufer, dem Quartier also, das heute als Reuterkiez oder auch "Kreuzkölln" bekannt ist und das in den letzten Jahren von der "jungen, kreativen Kunstszene" überrannt wird.
In Nordneukölln sind die Ladenlokale im Gegensatz zum hippen Kreuzberg noch billig. Von einem "inflationären Hype" spricht Arno Sann, Organisator der "nachtundnebel" Galerien-Schau. Vor drei Jahren beteiligten sich 35 Aussteller an der Aktion. Dieses Jahr waren es doppelt so viele. Im neuen Trendkiez jagt ein Event das nächste. Bis zu tausend Künstler präsentieren sich jeden Sommer bei "48 Stunden Neukölln", einem Festival, das jüngst von der Kulturpolitischen Gesellschaft aus Bonn ausgezeichnet wurde. Und am kommenden Wochenende beginnt das Mode-Event "Neukölln zieht an".
Seit 2003 gehe es mit dem Kiez voran, bilanziert Quartiersmanagerin Luzia Weber. Zu diesem Zeitpunkt hat das Quartiersmanagement Reuterplatz seine Arbeit im "sozialen Brennpunkt" aufgenommen. Seitdem gibt es das Projekt "Bewohneradäquate Stadtteilkultur". An den Lebensumständen der normalen Bevölkerung hätten die Galerien aber nichts geändert. Rund 35 Prozent der Kiezbewohner seien arbeitslos. "Friedliche Parallelwelten" nennt Weber das, was zurzeit im Reuterkiez entsteht.
"Parallelwelten" sagt auch Travestiekünstlerin Beverly, die sich in ihrem grünen Cocktailkleid zwischen arabischen Jugendgangs nicht immer wohlfühlt. "Integrieren müssen sich nicht nur die Ausländer, sondern auch die Deutschen", findet Wilfried Winze. Der arbeitslose Schlosser mit Bismarck-Schnauzer repräsentiert so etwas wie den Prototypen des Urneuköllners und bricht trotzdem mit allen Klischees. Statt in piefigen Eckkneipen Bier und Korn zu trinken, arbeitet er als 1-Euro-Jobber im türkischen Integrationszentrum in der Lenaustraße. Dort treffen sich Frauen mit Kopftuch zur Bastelstunde.
Gerade kommt die Gruppe Rucksacktouristen durch die Tür. Jeder dritte Bewohner im Reuterkiez hat einen Migrationshintergrund. Aber am späten Abend ist hier keiner mehr zu sehen. Die Männer haben sich längst in ihre eigene Welt - genauer gesagt: rauchige Clubs - zum Skatspielen zurückgezogen. Fremde haben da keinen Zutritt. "Nur für Mitglieder" steht an der Tür.
Also ziehen die Rucksacktouristen quer über den Reuterplatz weiter. "Wer weiß, wer Ernst Reuter war?", fragt die kurzhaarige Kulturführerin die Gruppe. "Bis 1953 regierender Bürgermeister, ist doch klar", kräht Bernd Wirths. In seinem Kiez kann ihm keiner was erzählen. Und dann steht der Trupp vor der minimalistisch gestylten Galerie Malerei&Graphik in der Friedelstraße. Schon durch die Scheiben sieht man Aktmodelle rücklings über weißen Sitzwürfeln liegen, sodass ihnen fast der Busen aus dem Hemdchen rutscht. Kunststudenten zeichnen eifrig, was sich vor ihnen erotisch in Szene setzt. Enrico Pietracci ist Italiener mit Glatze und weißem Hemd, er hat die Zeichensession organisiert. In einer Ecke wummert ein Kontrabass. Rotweingläser klirren. "Bewohneradäquate Stadtteilkultur", das heißt in der Galerie Malerei&Graphik: elegantes Ambiente.
Bernd Wirths schwitzt. Er geht nach draußen, an seinem Parka ist ein Button befestigt: "Alle Berliner sind Freunde", dazu das Bild von einem frechen Frosch. "Was heute Kreuzkölln heißt, hieß früher Rixdorf", erzählt der rüstige Rentner. Er schätzt, dass 80 Prozent der Kreuzköllner inzwischen "junge Leut" sind, aber als "Opa mit Krawatte" ausgegrenzt fühlt er sich nicht. Im Gegenteil. "Hauptsache, Neukölln bleibt nicht ewig eine Schmuddelecke", begrüßt Wirths die Entwicklung.
In Internetforen wie "das reuterkiez-blog" wird bereits darüber diskutiert ob der Reuterkiez wohl demnächst zu Prenzlauer Berg mutiert. Gentrifizierung wird die Wandlung zum Schickimicki-Biotop genannt. Die Folge wäre, dass die angestammte Bevölkerung verdrängt wird, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen kann. Die Gefahr einer Gentrifizierung sieht Quartiersmanagerin Weber bislang jedoch nicht. "Die Künstler improvisieren im Low-Budget-Bereich", sagt Weber. Sie ist in den 1990er-Jahren selbst als Studentin in den Reuterkiez gezogen. "Damals war hier kulturell praktisch nichts" los. Natürlich bestünde die Gefahr, dass die Mieten steigen. "Noch gilt der Reuterkiez aber als einfache Wohnlage, auch sind kaum Immobilienkonzerne ansässig, und mit den privaten Vermietern kann man verhandeln."
Von der Happy-Reuter-Family zwischen Vermietern und Mietern wissen die Internetblogger hingegen nichts: Die Mietpreise steigen, stellen sie fest. Dass das "neue" das "alte" Neukölln verdrängt, befürchtet Weber unterdessen nicht: "Die Kreativen mieten leer stehende Ladenlokale, die eh keiner haben will. Neukölln muss sich nicht zwangsläufig so entwickeln wie Prenzlauer Berg."
Szenenwechsel. Die Touristengruppe mit den Rucksäcken haben ihr letztes Ziel erreicht: eine Bar in der Reichenberger Straße. Genau hinter ihnen laufen jetzt Janina und ihr Freund, die spitzen Stiefeletten der 34-jährigen Modedesignerin klackern auf dem Pflaster. Die Touristen betreten kurz vor Janina die Bar. Da stöhnt Janina: "Oh nee, die ganzen Rucksackträger", stöhnt Janina genervt.
Das Publikum in der Bar passt der Modedesignerin schon lange nicht mehr. "Trampeltouristen" nennt sie die, die jetzt kommen, seitdem die Bar so bekannt geworden ist. Welche Bar überhaupt? "Gold und und Benne", flüstert Janina geheimnisvoll. Wie bitte? "Bohnen Gold oder Bennewitz", verrät Janina den Inside-Doppelnamen. Die Geheimniskrämerei begründet sie so: Die Uncoolen sollen nicht erfahren, wo es cool ist. Aber wenn am Wochenende Fashion-Week ist, dann will Janina sowieso ihre eigene Party organisieren. Auf die dürften aber keine Wollsockenstudenten aus der Kneipe Ori kommen. "Ja, gegen eine Gentrifizierung bin ich auch, hoffentlich bleibt Neukölln anarchisch", schiebt Janina nach.
Unterdessen bestellt ihr Freund in Cowboystiefeln und Gürtelschnalle subtil arrogant seinen Drink. Das riecht gar nicht nach Anarchie und auch nicht nur nach Duftwässerchen, sondern verdammt nach zukünftigem Neuköllner Bionade-Biedermeier - wie frisch vom Prenzlauer Berg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen